Full text: Allgemeine Staatslehre

Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates. 177 
Als letzte objektive Bestandteile der Staaten ergeben sich 
daher Willensverhältnisse Herrschender und Beherrschter, die 
beide in zeitlicher, in der Regel auch (bei zusammenhängendem 
Staatsgebiete) in räumlicher Kontinuität stehen. Theoretische 
Betrachtung ergibt fortwährenden Wechsel in den herrschenden 
und beherrschten Individuen, ja im Grunde sind so viele Be- 
herrschungsverhältnisse vorhanden, als es Individuen gibt. Diese 
Verhältnisse sind aber, wenn man sie isoliert und nur die Be- 
ziehung von Willen zu Willen in Betracht zieht, völlig identisch, 
so daß sie unter höhere Begriffe geordnet werden können. 
Die erste Aufgabe wissenschaftlicher Betrachtung ist es, die 
Vielheit der Erscheinungen zu ordnen. Dieses Ordnen erfolgt 
durch Zusammenfassen der voneinander getrennten Elemente des 
Gegebenen zu Einheiten. Jeder Einheit muß aber ein Einigungs- 
prinzip zugrunde liegen, Zuvörderst ist daher das Einigungs- 
prinzip für die Willensverhältnisse zu suchen, deren Gesamtheit 
sich uns als Staat darstellt?). 
Es gibt räumliche und zeitliche Einheiten. Was in 
Raum und Zeit uns gegen ein anderes abgegrenzt erscheint, 
fassen wir als eine Einheit auf. Solche äußerliche, mechanische 
Einheit reicht für den Staat nicht aus. Eine gegen andere durch 
ein Gebiet abgegrenzte Menschenmasse ist noch kein Staat. Es 
gibt ferner kausale Einheiten. Alles, was auf eine gemeinsame 
Ursache zurückzuführen ist, stellt sich uns als Einheit dar. 
Solche kausale einigende Elemente sind zwar im Staate vor- 
handen, genügen aber nicht, um ihn als eine durchgängige Ein- 
heit erscheinen zu lassen. Das Volk erscheint uns als eine stete 
Einheit, weil es auch durch den kausalen Vorgang der Ab- 
stammung von Volksgenossen konstituiert wird; bei staatlichen 
Neugründungen aber oder Vergrößerungen des Staates fällt 
  
1) Die Frage nach den Einheitsprinzipien hat zuerst die Stoa ein- 
gehend beschäftigt. Vgl. die eingehende Darstellung von Göppert 
Über einheitliche, zusammengesetzte und Gesamt-Sachen 1871 S.10ff. 
Auch die neuere Staatslehre hat alsbald nach dem Einheitsprinzip für 
Volk und Staat gesucht, so vor allem Grotius II 9,3ff,, sodann 
Pufendorf VIII 12. Die gründlichste und systematischste Unter- 
suchung dieser erkenntnistheoretischen Grundfrage bei Sigwart II865, 
872 Ziff. 4ff., 878. Über das Relative im Begriffe der Einheit aus der 
neuesten Literatur Simmel Geschichtsphilosophie S. 108ff.; vgl. auch 
G. Jellinek System S. 21 ff. 
G. Jellinek, Allg. Staatslehre. 3, Aufl. 12
	        
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