Diebentes Kapitel.
Die Lehren von der Rechtiertigung des Staates.
I. Das Problem.
Menschliche Institutionen scheiden sich von natürlichen Vor-
gängen grundsätzlich dadurch, daß sie stetigen Willensprozessen
ihren Ursprung und Fortgang verdanken. Menschlicher Wille
wirkt aber niemals bloß nach Art einer Naturkraft, deren Effekt,
sofern nicht andere Kräfte ihn aufheben, ein ununterbrochener
ıst. Vielmehr ist die Fortdauer von Willensaktionen stets von
vernünftigen Erwägungen abhängig. Dem Einzelbewußtsein stellt
sich das soziale Handeln und Leiden niemals bloß unter der
Kategorie des Müssens, sondern stets auch unter der des
Sollens dar.
Darum liegt es im Wesen unseres Denkens begründet, daß
wır allen sozialen Institutionen gegenüber die kritische Frage er-
heben: Warum sind sie da? Diese Frage ist keineswegs, wie so
oft irrtümlich angenommen wurde, auf die historische Entstehung
der Institutionen gerichtet. Nicht geschichtliches Wissen, sondern
Grundsätze für das Handeln sollen die Antworten auf die be-
rührte kritische Frage uns lebren. Wie immer die Institutionen
entstanden sein mögen, sie müssen sich, um fortzubestehen, vor
dem Bewußtsein einer jeden Generation als vernünftig recht-
fertigen können.
Das gilt in erster Linie vom Staate. Jedes Geschlecht tritt
mit psychologischer Notwendigkeit dem Staate entgegen mit der
Frage: Warum überhaupt der Staat mit seiner Zwangsgewalt?
Warum muß sich das Individuum die Beugung seines Willens
durch einen anderen gefallen lassen, warum und in welchem
Umfange muß es der Gesamtheit Opfer bringen? Die Antworten
auf diese Fragen wollen den einzelnen lehren, warum er den