Siebentes Kapitel. Die Lehren von der Rechtfertigung des Staates. 193
es ausgesprochen, daß der Staat nur eine zum Vorteil des
Mächtigen bestehende Institution, die Organisation der sozialen
Ausbeutung sei, daß das Recht menschlicher Satzung seinen
Ursprung verdanke und zur Fesselung der Starken durch die
Schwachen bestimmt sei, daß aber der Starke, wenn er dies
einmal erkannt habe, diese widernatürlichen Fesseln zerreiße
und damit die Herrschaft des Naturgesetzes herstelle!). In
epigrammatischer Kürze ist die Lehre vom Recht des Stärkeren
in den Worten ausgesprochen, die Plutarch dem Brennus
in den Mund legt?).
In der neueren Zeit tritt die Machttheorie zuerst im Zu-
sammenhang mit dem Kampfe gegen die theologische Welt-
anschauung auf. Hatte Hobbes bereits für das Recht des
einzelnen im Naturzustande keine andere Schranke gekannt als
dessen Macht und den Machtstaat neben dem Vertragsstaat als
ebenbürtige, ihre Mitglieder mit gleichem Rechte zwingende Er-
scheinungen des Staates behauptet, so ıdentifiziert Spınoza
Recht und Macht schlechthin. Dieser häufig mißverstandene Satz
besagt aber nur, daß alles in der mit Gott sich deckenden Natur
mit Notwendigkeit geschieht und daher Recht ist, daß wir
darum keinen objektiven Maßstab haben, um an ıhm Recht und
Unrecht des unendlichen Naturgeschehens messen zu können?),
und daß eine machtlose Rechtsordnung sich nicht behaupten
könne. Daher ist nur eine relative, positivrechtliche Bestimmung
eines von dem Machtkreis des einzelnen unterschiedenen Rechtes
möglich. Im Kampfe mit der naturrechtlichen Vertragslehre hat
sodann ım 19. Jahrhundert K.L.v. Haller in schroffer Weise
den Satz aufgestellt, daß die auf der Ungleichheit der Menschen
aufgebaute staatliche Herrschaft auf einem unentrinnbaren Natur-
gesetze beruhe, daß der Naturstand, in dem solches statthabe,
nicht zu Ende sei und niemals zu Ende sein könne®). In der
neuesten Zeit hat die sozialistische Gesellschaftslehre, welche die
1) Vgl. Plato Gorgias 482 Eff., Rep. I 3338 C £f.
2) Vitae XI, Camillus XVII 3,4. Daß der Stärkere herrsche, wird
ngeoßvtaros av vouwv genannt.
%) „Per Jus itaque naturae intelligo ipsas naturae leges, seu regulas,
secundum quas omnia fiunt, hoc est, ipsam naturae potentiam; atque
adeo totius naturae et consequenter uniuscujusque individui naturale Jus
eo usque se extendit, quo eius potentia.‘“ Tract. polit. II 4.
4) Restauration der Staatswissenschaften I S. 340,
G.Jellinek, Allg. Staatslehre. 3. Aufl. 13