Full text: Allgemeine Staatslehre

196 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates. 
worden, und zwar aus dem an die Spitze der Deduktionen ge- 
stellten Satz, daß der Staat auf Gewalt und Zwang beruhe, da- 
her jedes höheren sittlichen Gehaltes ledig sei. Und wie einer- 
seits Verneinung, so ergibt sich anderseits der Versuch funda- 
mentaler Umwälzung alles Bestehenden als durch die Macht- 
lehre gerechtfertigt. Denn Naturgesctze gelten häufig nur inner- 
halb bestimmter Grenzen, unter bestimmten Voraussetzungen. 
Die Prüfung dieser Grenzen durch die Praxis ist gerade vom 
Standpunkte einer mechanisch-empirischen Natur- und Geschichts- 
auffassung gefordert. Daher liegen auch die radikalsten soziali- 
stischen Pläne, wenn nicht in der logischen, so doch ın der 
psychologischen Konsequenz der Machttheorie. Es liegt nun ein- 
mal im \Vesen der menschlichen Natur, sich nicht blindlings 
wahren oder angeblichen Naturgewalten zu unterwerfen, son- 
dern vorerst zu versuchen, ob sie nicht durch menschliche Tat- 
kraft zu überwinden seien. Denn in der Überwindung oder Ver- 
geistigung der Natur besteht doch schließlich alle Kultur. 
In Wahrheit verfehlt also die Machtlehre ihr Ziel. Sie recht- 
fertigt den Staat nicht, sondern sie vernichtet ihn, sie ebnet der 
permanenten Revolution die Wege. Diese Erkenntnis entdeckt 
uns eine hohe Ironie, die ja so oft die Geschichte der ethischen 
und politischen Theorien durchwaltet hat. Die von der deutschen 
Reaktion einst so bewunderte „Restauration der Staatswissen- 
schaften“ hat zwar nicht den mittelalterlichen Staat wieder her- 
zustellen vermocht, wohl aber ist ihr Grundgedanke der Leitstern 
erncuter Revolutionsbestrebungen geworden. 
Aber auch für die auf dem Boden des gegebenen Staates 
Stehenden bedeutet die Machtlehre die Aufforderung zu dauernder 
Bekämpfung der bestehenden Ordnung. Wenn der Staat seinem 
Wesen nach nichts anderes ist als faktische Herrschaft, so ergibt 
sich daraus psychologisch das Streben des Beherrschten, mit allen 
Mitteln zur Herrschaft zu gelangen!). Ein besseres Recht der 
im Besitz befindlichen Machthaber kann diese Theorie den nach 
dem Besitze Strebenden zweifellos nicht als Schranke solchen 
1) Das hat bereits Rousseau in glänzender Form hervorgehoben: 
„Sitöt que c’est la force qui fait le droit, l’effet change avec la cause: 
toute force qui surmonte la premiere succede a son droit. Sitöt qu’on 
peut desob&ir impunäment, on le peut l&egitimement; et puisque le plus 
fort a toujours raison, il ne s’agit que de faire en sorte qu’on soit le 
plus fort.“ Contr. soc. I 3.
	        
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