204 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
haupten ihn, um den ungöttlichen Charakter des Imperiums dar-
zutun, als auch die Antigregorianer, um die Unabhängigkeit des
Kaisers von der päpstlichen Gewalt nachzuweisen!). In den
Kämpfen der Stände gegen die Fürsten wird fortdauernd der
vertragsmäßige Charakter des Verhältnisses beider betont,
welche Anschauung ja noch im England des :17. Jahrhunderts
und darüber hinaus in den altständischen ‚Staaten des Konti-
nentes eine Rolle spielt. Denn nicht den Grund der Institution
des Staates schlechthin, sondern den der konkreten Staats-
gewalt will die mittelalterliche Vertragslehre nachweisen).
Weit gefehlt wäre es nämlich, im Mittelalter eine Lehre zu
suchen, die im Vertrage den letzten Rechtsgrund des Staates er-
kennen würde. Zwei gewichtige Umstände stehen einer prinzi-
piellen Durchbildung der Vertragslehre im Mittelalter entgegen.
Einmal die kirchliche Anschauung, die den Grund des Staates in
einem durch die Erbsünde bedingten übermenschlichen Willens-
akte erblickt, daher menschlichen Willen nicht als einzige Basis
des Staates anzuerkennen vermag, sodann die unbestrittene
Autorität des Aristoteles, dessen Ansichten vom Ursprung
des Staates die scholastische Literatur zu den ihrigen machte.
Nicht nur Thomas von Aquino, selbst der kühne Marsilius
von Padua?) stehen ganz auf dem Boden der theologisch-aristo-
telischen Lehre. Die Vertragslehre des Mittelalters ist nicht Lehre
von der primären Schöpfung des Staates, sondern von der Ein-
setzung des Herrschers im Staate. Nicht der populus, sondern
der rex entsteht durch Vertrag. Die mittelalterliche Lehre ist
daher überwiegend Lehre vom Subjektionsvertrag, der die
Verfassung des Staates, aber nicht den Staat selbst schafft. Wenn
sich daher auch hier und da Spuren eines Gesellschafts-
vertrages nachweisen lassen®), der nicht die Gewalt im ge-
gegebenen Staate ableiten, sondern den Staat selbst konstituieren
1) Bezold a.a.0. S. 322ff.; Mirbt Publizistik S. 226 ff.
2) Diesem Satze steht v. Lemavyer, Begriff des Rechtsschutzes S. 49
N.70, zweifelnd gegenüber, indem er die mittelalterliche Vertragstheorie
an unserem entwickelten Staatsbegriff mißt, der von dem durch die
autoritären aristotelischen und christlichen Lehren gebundenen Denken
jener Zeit nicht erzeugt werden konnte. Um die mittelalterlichen Theorien
zu würdigen, darf man aus ihnen nicht Folgerungen ziehen, die erst einer
späteren Epoche möglich waren.
3) Vgl. Defensor pacis I 3—4, 6.
&) Vgl. Gierke Gen.-Recht III S. 626 ff.