206 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
und wird dort und in den amerikanischen Kolonien zuerst
praktisch betätigt).
Auf dem Kontinent jedoch tritt der Gesellschaftsvertrag zu-
nächst in unausgebildeter Form auf. Gierke hat dem Althu-
sius die Urheberschaft nicht des Gedankens, wohl aber der
modernen wissenschaftlichen Theorie vom Gesellschaftsvertrag
vindizieren wollen?). Bei diesem Schriftsteller ist aber von klarer
Untersuchung der Art dieses Vertrages und der Stellung des
Individuums zu ihm noch keine Rede. Nicht die Individuen,
sondern die Städte und Provinzen sind die Konstituenten dieses
Vertrages®). Auch bei Grotius, der lange als Schöpfer der
ud
1) Vgl. Weingarten Die Revolutionskirchen Englands 1868 S. 13 £f.;
Borgeaud Premiers programmes de la d&emocratie moderne, Annales
de l’ecole libre des sciences politiques V 1890 p.318ff.; G. Jellinek Die
Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 2. Aufl. 1904 S.35ff.; Gooch
English democratic ideas in the seventeenth century, Cambridge 1898,
p. 34ff,, 73ff. Eine Geschichte der modernen Staatsvertragstheorie 'hat
an diese schottisch-englisch-amerikanische Bewegung anzuknüpfen. Bisher
wurde die Entwicklung dieser so einflußreichen politischen Theorie viel
zu sehr als rein literarische betrachtet. Die Gründer der Vertragslehre
ın ihren epochemachenden, auf die außerenglische Literatur tief ein-
wirkenden Formen, Hobbes und Locke, standen bei Aufstellung ihrer
Grundlehre sicherlich weitaus mehr unter dem Einflusse der von ihnen
bekämpften oder angenommenen populären englischen Anschauungen als
unter dem Banne irgendwelcher älterer gelehrter Schriftsteller.
2) Gierke J. Althusius S. 76 und der Zusatz S. 329 N. 10.
®) Althusius Politica (ed.IV, Herborn 1625) V p.59ff. Die ge-
waltige Wirkung der Idee des Sozialvertrages lag darin, daß der Staat
unmittelbar aus dem Willen des Individuums hervorgehend gezeigt wurde;
bei Althusius schieben sich aber zwischen Individuum und Staat
mehrere Zwischenglieder derart ein, daß der Zusammenhang zwischen
Individualwillen und Existenz des Staates ganz verdunkelt wird. Die
Lehre des Althusius vom Herrschaftsvertrag XIX p.326ff. gießt
längst vorhandene Gedanken in schulgerechte Formen und bringt zahl-
reiche dem Zeitgeschmacke entsprechende Belege für die aufgestellten
Sätze. Auch die Stellen aus des Althusius Dicaeologica I (ed. 1,
Francofurti 1649, p. 283) c.81 nr. 4,7, auf die sich Gierke beruft, bringen
die Ableitung des Staates aus dem Individuum keineswegs zum klaren
Bewußtsein. Daß Althusius aber direkt auf die Lehren der Engländer
gewirkt habe, halte ich für unerwiesen. Jedenfalls hat Hooker den
Gesellschaftsvertrag schon vor Althusius in England populär gemacht.
Das wird auch durch die neuerlichen Bemerkungen Gierkes, Althusius
S.328 N. 10, nicht widerlegt. Ob Hookers Ausführungen populär und ver-
schwommen sind, die des Althusius hingegen den ersten systematischen