Full text: Allgemeine Staatslehre

212 Zweites Buch, Allgemeine Soziallehre des Staates. 
freies Wesen geborene Mensch überall in Ketten geschlagen sei, 
will er durchaus nicht die historische Frage beantworten, wo- 
durch sich der gegenwärtige Zustand herausgebildet habe, sondern 
vielmehr das Problem lösen, wodurch er legitimiert werden 
könne!). Nachdem er die bisher aufgestellten Lehren vom Grunde 
des Staates kritisiert und verworfen hat, kommt er von dem vor 
ihm bereits energisch durch Locke verfochtenen Satze aus, daß 
Freiheit vom \Wesen des Menschen untrennbar sei und auf sie 
daher nicht verzichtet werden könne, zu der Forderung, daß 
man den Staat auf einen Gesellschaftsvertrag gründen müsse, 
durch welchen sich die Teilnehmer des Vertrages unter die 
Leitung des von der Gesamtheit zu bildenden Willens stellen. 
Da im allgemeinen Willen der Wille des einzelnen mitenthalten 
ist, so bleibt jeder im derart aufgebauten Staate nur sich selbst 
unterworfen, es ist daher auch im Staate die Freiheit gewahrt?). 
Rousseaus staatsgründender Vertrag ıst daher scheinbar reiner 
Gesellschaftsvertrag. Bei näherem Zusehen findet man jedoch, 
daß er ganz wie der Vertrag des Hobbes auch zugleich Unter- 
  
1) „L’'homme est n& libre, et partout il est dans les fers. Tel se 
croit le maitre des autres, quı ne laisse pas d’etre plus esclave qu’eux. 
Comment ce cehangement s’est-il fait? Je l’ignore. (Qu’est-ce qui 
peut le rendre l&gitime? Je crois pouvoir resoudre cette question.“ 
Contr. soc. Il. Sehr deutlich hatte Rousseau bereits in der Einleitung 
zum Discours sur l’inegalite parmi les hommes allen Historismus ab- 
gelehnt: „Commencons donc par &carter tous les faits, car ils ne touchent 
point a la question. Il ne faut pas prendre les recherches dans lesquelles 
on peut entrer sur ce sujet pour des v£rites historiques, mais seulement 
pour des raisonnements hypothetiques et conditionnels.“ Die richtige 
Auffassung bereits energisch vorgetragen von J.G.Fichte Beiträge 
WW.VTS.80. Neuerdings ist sie wieder erkannt worden von Stamm- 
ler, Die Theorie des Anarehismus 1894 S.14; Liepmann, S. Yöff., 
und in anderer, der Rousseauschen Lehre mehr entsprechender Wendung 
von Haymann, a.a.0. S.57ff.;, vgl. auch Rehm Staatslehre S. 267 
und Gierke Althusius S. 348 £f. 
2) Auf weitgehende Analogien dieser Lehre des Rousseau mit Ge- 
danken des Spinoza hat Ad.Menzel, Wandlungen in der Staatslehre 
des Spinoza 1898 S. 23ff., aufmerksam gemacht. Vgl. auch Ad. Menzel 
Der Sozialvertrag bei Spinoza (Grünhuts Z. 34. Bd. 1907 S. 451ff.). Die 
Idee, daß in der Demokratie jeder nur seinem Willen unterworfen bleibe, 
weist auf antike Anschauungen zurück. So Aristoteles, Pol.VI2, 
1317b, 14ff.: „is uev odv Önuoxparias 6005 odros ÖEVTepos’ Evreüder 
ÖEAnAvde To un üoyesdar, nalıora ur Uno unmderös, el ÖE un, xata HEDoS“ xal 
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