214 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
Die Kritik der Vertragslehre hat sich nur mit deren ratio-
naler Seite zu beschäftigen. Die Vertragstheorie als Lehre vom
primären geschichtlichen Entstehungsgrund des Staates ist bei dem
Mangel jeglicher historischer Basis vom Standpunkte heutiger
Wissenschaft nicht ernst zu nehmen. Welche Bewandtnis es mit
den geschichtlichen Beispielen angeblicher Staatengründung durch
Vertrag hat, wird an anderer Stelle erörtert ‚werden. Als
historische Lehre war die Vertragstheorie die notwendige Kon-
sequenz der Bildung einer Epoche, deren Kenntnis vom Urdasein
des Menschengeschlechtes von der Vorstellung eines durch autori-
täre Urkunden beglaubigten Zustandes der Staatslosigkeit ausging,
aus dem die Menschen auf Grund rationeller Erwägungen, um
‚bestimmte klar erkannte Zwecke zu erreichen, ausgetreten waren.
Die große Bedeutung und das jahrhundertelange Ansehen
der Vertragslehre beruhen auf ihrem rationalistischen Grund-
gedanken, dem Individuum den Staat als vernünftiges Produkt
seines eigenen Willens aufzuzeigen. Eine tiefere Rechtfertigung
des Staates als die, welche dem Individuum nachweisti, daß es
selbst den Staat als notwendig erkannt und deshalb frei und
bewußt geschaffen habe, dessen Anerkennung somit nur die Kon-
sequenz seiner eigenen Tat sei, läßt sich auf den ersten Blick
kaum denken. Diese Lehre ist überdies mit jeder anderen An-
sicht von der historischen Entstehung des Staates zu vereinigen,
indem sie, in klarer Weise zu Ende gedacht, nicht den ver-
gangenen, sondern, wie jede Rechtfertigungslehre, ausschließlich
den gegenwärtigen und künftigen Staat auf eine rationale Basis
fangs der bürgerlichen Gesellschaft nicht herauflangen (denn die Wilden
errichten kein Instrument ihrer Unterwerfung unter das Gesetz, und es
ist auch schon aus der Natur roher Menschen abzunehmen, daß sie es
mit der Gewalt angefangen haben werden). Ebenda 852. Doch verdient
hervorgehoben zu werden, daß in Deutschland vor Kant bereits Svarez
bei Abfassung des Allg. Landrechts denselben Gedanken vertrat. Er
gründet die dem Staatsoberhaupt zustehende Ausübung aller dem Staate
gegen Mitglieder zustehenden Rechte auf den Grundsatz des Staatsvertrags
und fährt fort: „Diesen Grund-Satz halte ich zwar nicht für historisch
richtig, weil die Geschichte, wenigstens der allermeisten älteren und
neueren Staaten beweist, daß physische und moralische Unterjochung
ihr Ursprung gewesen sey. Es ist aber doch philosophisch wahr, und
wenigstens eine sehr bequeme Hypothese, um daraus die’Rechte und
Pflichten zwischen Regenten und Unterthanen zu erklären.“ Vgl. Stölzel
Carl Gottlieb Svarez 1885 S. 384.