220 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
in seinen berühmten Ausführungen über die staatliche Anlage des
Menschen und die Wirkung des zu höheren sozialen Bildungen
hindrängenden Ergänzungsstrebens. Auch mit anderen Theorien
steht die psychologische Lehre in engerem oder loserem Zusammen-
hang, so mit der naturrechtlichen, insofern sie in bestimmten
menschlichen Trieben (Geselligkeitstrieb, Nützlichkeitsstreben,
Furcht), den Motor zur Staatenbildung erblickt. Namentlich aber
tritt sie in neuerer Zeit im Verein mit der ethischen Theorie
auf, indem die historisch-psychologische Erscheinung des Staates
zugleich als vernünftig behauptet wird!). Das geschichtlich Ge-
wordene trägt in solcher Auffassung die sittliche Anforderung in
sich, es als ein Vernünftiges anzuerkennen. Anderseits aber wird
bei der Abwendung von der Metaphysik, die heute vorherrscht,
die Frage nach der absoluten Vernünftigkeit des Staates in der
Regel nicht mehr berührt und von Philosophen?) wie Historikern
eine rein psychologische Rechtfertigung des Staates aus seinem
in der menschlichen Organisation beruhenden, historisch not-
wendigen Dasein vorausgesetzt.
Die Kritik der in den beiden zuletzt dargestellten Theorien
enthaltenen, heute herrschenden Lehren ist mit der nun folgenden
systematischen Erörterung des Problems zu verbinden.
III. Systematische Entwicklung der Rechtfertigungslehre.
Der kritische Überblick der bisher aufgestellten Theorien
ergibt, daß es sich für sie alle nicht um Begründung der staat-
lichen Gemeinschaft in ihrem ganzen Umfange handelt, sondern
nur um eines ihrer Elemente, nämlich des Imperiums, der
Herrschafts- und Zwangsgewalt. Denn sie allein bezeichnet den
Punkt, wo dem Einzelwillen ein anderer mit dem Anspruch ent-
gegentriit, ihn zu bestimmen und nötigenfalls zu beugen, ja sogar
zu vernichten. Daher ist es die Existenz einer Zwangsgewalt, die
notwendig die Frage hervorruft: Warum soll das Individuum sie
sich gefallen lassen? Wenn die psychologische Theorie auf die
menschliche Anlage zum Staate hinweist, so liegt darin keine be-
friedigende Antwort. Denn nur die Gemeinschaft, das Leben in
1) Daher können viele Anhänger der ethischen Theorie auch hier
genannt werden. Ferner Lasson Rechtsphilosophie S. 298 ff.
?) In den neuesten Systemen der Ethik von Wundt, Paulsen,
Höffding, die doch ex professo vom Grunde des Staates zu handeln
hätten, wird diese Frage nicht erörtert, oder doch nur gestreift.