Full text: Allgemeine Staatslehre

Siebentes Kapitel. Die Lehren von der Rechtfertigung des Staates. 223 
Disziplinargewalt vermag kein, noch so locker gestalteter, ‚Verein 
und keine geordnete Versammlung ungestört ihre Tätigkeit aus- 
zuüben. 
Ist nun schon die Erreichung partikularer Lebenszwecke aus; 
schließlich durch den isolierten Menschen unmöglich, so ist das 
in noch höherem Grade der Fall mit der Gesamtheit der Lebens- 
zivecke. Diese können vom Individuum nur verfolgt und erreicht 
werden unter der Voraussetzung des Daseins einer Rechtsordnung; 
die sowohl jedem die Schranken seines Handelns absteckt, als 
auch den Einzelwillen im Gemeininteresse in vorausbestimmte 
Bahnen lenkt. Allerdings wirkt nicht nur das Recht schranken- 
ziehend und regulierend. Allein die anderen sozialen Mächte, 
die ebenfalls solche Wirkung haben, sind für sich allein nicht 
hinreichend, diese Schranken unter allen Umständen zu Sichern. 
Wer das leugnet und meint, daß ein mutualistisches System des 
wirtschaftlichen Verkehrs eine natürliche, sich stets durchsetzende 
Harmonie der menschlichen Interessen hervorrufen oder daß ver- 
nünftige Selbstsucht oder irgendein anderes Element unserer 
psychischen Ausstattung bewırkeri werde, daß Verkehrsnormen, 
die sich ohne Rechtszwang realisieren!), als Bedingungen des 
sozialen Lebens genügen, der hat, wie alle Utopisten, eine falsche 
  
1) Worin der Unterschied-beider Gattungen von Regeln besteht, wird 
unten Kap. XI erörtert werden. Stammler, Theorie des Anarchismus 
S.24, und Wirtschaft und Recht, 2. Aufl. S. 121ff., 477£f., "stellt der 
Rechtsregel die Konventionalregel gegenüber, die ihm zufolge nur kraft 
Einwilligung der ihr Ünterstellten gelten soll, eine schiefe Auffassung 
der nichtjuristischen sozialen Normen, die überdies das ganze dispositive 
Recht des Rechtscharakters beraubt und zur „Konventionalregel‘ stem- 
pelt. Aus der Tatsache, daß ich mich einer sozialen Norm entziehen 
kann, folgt keineswegs auch, daß sie nur vermöge meiner Einwilligung 
gelte. Die Geltung solcher wie aller Normen beruht auf innerer Er- 
fahrung, die von der dunkeln Empfindung bis zur’ klaren Überzeugung 
gehen kann, daß man durch die Norm verpflichtet- sei, nicht auf der 
Möglichkeit, ihre Geltung zu verneinen. Gegen Stammlers Konventional- 
regeln auch Bierling im Arch. f. Rechtsphilosophie III 1910 S. 155£f. 
Stammler operiert mit dem Begriff des Geltens, ohne ihn irgendwie 
zu erklären. Und doch müßten Untersuchungen wie die seinen zuerst 
die kritische Frage erörtern: Was heißt eine gültige Regel, und wie ist 
eın Gelten für den Willen möglich? — In seinem: neuesten Werke widmet 
denn-nunmehr Stammler dem Probleme des rechtlichen Geltens einen 
ganzen Abschnitt (Theorie der Rechtswissenschaft 1911 S. 114ff.) und 
kommt zu Ergebnissen, die den. Ausführungen des elften Kapitels . dieser 
Staatslehre ziemlich nahestehen.
	        
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