Achtes Kapitel. Die Lehren vom Zweck des Staates. 237
Politik. Jede Änderung in der Gesetzgebung und Organisation
des Staates muß durch ihre Zweckmäßigkeit begründet werden,
jeder Motivenbericht einer Gesetzesvorlage muß sich ausgesprochen
oder stillschweigend irgendwie auf die Staatszwecke stützen.
Daher kommt auch der Gegensatz der großen politischen Parteien
zum Ausdruck in den entgegengesetzten Ansichten über die
Staatszwecke. Liberal und konservativ, ultramontan und sozia-
listisch bedeuten grundsätzliche Differenzen über die Aufgaben
des Staates. Politische Prinzipien haben, heißt nichts anderes,
als bestimmte Ansichten über das Verhältnis konkreter Angelegen-
heiten zu den Mittel- oder Endzwecken des Staates haben. Nur
vom Standpunkte der Staaiszwecke aus läßt sich ein Urteil über
Wert und Unwert der Politik eines Staates fällen, was dem Be-
urteiler nicht immer zur Kenntnis zu kommen braucht. Alle
politischen Urteile sind teleologische Werturteile?).
Diese Anschauung von der Bedeutung des Staatszweckes hat
sich am sichtbarsten bei den bundesstaatlichen Schöpfungen der
neuesten Zeit gezeigt. Sowohl die Einleitung der Verfassung
der Vereinigten Staaten von Amerika?), als dıe Verfassung der
schweizerischen Eidgenossenschaft?) und der Eingang zur Ver-
fassung des Deutschen Reiches) stellen ausdrücklich die Zwecke
1) Die Ausführungen im Text lehren aufs deutlichste,. daß die Frage
nach den Staatszwecken keine juristische, sondern eine historisch-
politische ist, daher sie auch in der Soziallehre, nicht in der Rechtslehre
des Staates vorgetragen werden. Es gıbt daher keine „begrifflich not-
wendigen‘“, sondern nur nach den Anschauungen der Geschichtsepochen
wechselnde Staatszwecke, und die Einzelheiten der politischen Telcologie
dienen nicht der juristischen Konstruktion des Staatsbegriffes. Daher ist
die Kritik, welche Preuß, Über Organpersönlichkeit, a.a.0. S. 572 ff.,
gegen die hier vorgetragene Lehre richtet, methodisch gänzlich verfehlt.
Mit juristischer Dialektik kommt man auf diesem Gebiete nicht vorwärts.
2) Das Volk errichtet die Verfassung „in order to form a more
perfect union, establish justice, insure domestic tranquillity, provide for
the common defence, promote the general welfare, and secure -the
blessings of liberty to ourselves and our posterity“.
3) Bundesverfassung vom 29.Mai 1874 Art.2. Der Bund hat zum
Zweck: Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes gegen außen,
Handhabung von Ruhe und Ordnung im innern, Schutz der Freiheit und
der Rechte der Eidgenossen und Beförderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt.
*#) Der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes
und die süddeutschen Monarchen „schließen einen ewigen Bund zum
Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes,
sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes“.