Full text: Allgemeine Staatslehre

Achtes Kapitel. Die Lehren vom Zweck des Staates. 245 
Erreichung eines guten, d. h. eines nicht nur physisch, sondern 
auch sittlich Eudämonie gewährenden Lebens. Eine eigentümliche 
Wiedergeburt hat die antıke Lehre bei Hegel gefunden, der den 
Staat für die höchste Form der objektiven Sittlichkeit erklärt). 
Allein die Hegelsche Lehre ist eine Theorie vom metaphysischen 
Staatszweck. Die Idee hat die Macht, sich als vernünftig in der 
politischen Wirklichkeit zur Erscheinung zu bringen, und sie 
bedarf hierzu nicht des bewußten individuellen Handelns, viel- 
mehr sind die Individuen ihre Werkzeuge, die, ihnen unbewußt, 
die Taten der dialektischen Notwendigkeit vollbringen. 
Eine Abart dieser ethischen Theorie ist die Lehre von 
dem religiösen Berufe des Staates, wie sie der Vermischung des 
Geistlichen und Weltlichen im Mittelalter entsprach und im 
19. Jahrhundert von neuem in Form der Forderung auftaucht, 
daß der Staat ein christlicher Staat sein solle und demgemäß 
die Lehren des Christentums zu verwirklichen habe. Diese von 
französischen Legitimisten und Priestern erzeugte Theorie ist am 
energischsten von Stahl betont worden, der dem Staate eine 
göttliche Mission zuschreibt, kraft deren sein Zweck ist „nicht 
bloß eine Erfüllung sittlicher Ordnungen, sondern auch ein Dienst 
und Gehorsam gegen die Person Gottes und die Aufrichtung eines 
Reiches zur Ehre Gottes‘ ?). 
Von dieser Theorie in all ihren Abarten gilt dasselbe wie 
von der eudämonistischen. Das Sittliche wird ihr zufolge gemessen 
an den sittlichen Überzeugungen der Herrschenden, die nament- 
lich auf dem Gebiete der religiösen Sittlichkeit in schroffem 
Gegensatz zu denen der Beherrschten stehen können. Zudem 
verkennt diese Theorie die Grenzen des dem Staate Zugänglichen, 
da Sittlichkeit als innerliches Verhalten und Gesinnung niemals 
durch äußere Machtmittel erzielt werden kann. Willkür der 
Regierung und Vernichtung der geistigen Freiheit des Individuums 
ist das praktische Resultat dieser Lehren in jeder Form. Die 
Theorie vom christlichen Staat gefährdet überdies auch die 
Mission der Kirchen, indem sie diese anderen als den ihnen 
  
1) Ähnlich neuerdings Ad.Ravä Il diritto come norme tecnica 
1911 p. 99. 
2) 112 S.179. Vgl. auch Stahl Der christliche Staat 2. Aufl. 1858. — 
Von Stahl ist unten S. 249 N.3 noch einmal die Rede. Das übersieht 
wohl E.Kaufmann, Studien zur Lehre des monarchischen Prinzipes 
1906,- in seiner längeren Polemik S.94f. N. 105.
	        
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