Achtes Kapitel. Die Lehren vom Zweck des Staates. 247
klärt. Sie ist zuletzt namentlich an die große Autorität Kants
geknüpft worden, unter dessen Einfluß zahlreiche Schriftsteller
in den letzten Dezennien des 18. und den ersten des 19. Jahr-
hunderts stehent).
Daß Verwirklichung des Rechtes zu den Staatszwecken
zähle, ist in der Theorie niemals verkannt worden. Selbst die
Anhänger anderer Lehren fordern sie; indem sie aber das Recht
ihren höchsten Prinzipien unterordnen, kommt es bei ihnen zu
kurz, d. h. es muß weichen, wenn der höchste Staatszweck ein
anderes erfordert. Gegen diese Verkümmerung des Rechtes und
die mit ihr verknüpfte Schutzlosigkeit des Individuums gegenüber
der Staatsgewalt ist die Lehre von dem ausschließlichen Rechts-
zweck gerichtet. Sie ist geschichtlich nur als energischer Protest
gegen Lehre und Praxis der Staatsomnipotenz zu verstehen. Ihr
ausgesprochenes Ziel ist es, eine scharfe Grenzlinie zwischen
Staat und Individuum zu ziehen. Daher taucht sie zugleich mit
der modernen naturrechtlichen Lehre auf, die den Staat aus dem
Individuum ableitet und damit den Staat in den Dienst indivı-
dAuellar Interessen stellt, erhält aber ihre erste bedeutsame Gestalt
in dem Kampfe des englischen Parlaments mit dem Königtum
jure divino. Nach Vertreibung der Stuarts und der Schöpfung der
Bill of Rights hat Locke, indem er Schutz des Eigentums, das
Leben und Freiheit in sıch faßt, als einzigen Staatszweck bezeichnet,
die liberale Staatstheorie begründet, welche die Beschränkung
des Individuums durch Rechtssatz und Rechtszwang als die Aus-
nahme, die Freiheit der individuellen Bewegung als die Regel
betrachtet. Die Lockesche Lehre wirkt auf den ökonomischen
Liberalismus der Physiokraten und das Smithsche Industrie-
system?), und diese ganze Gedankenrichtung trägt auf dem Kon-
1) Das Recht als einzigen Staatszweck stellt auch die Krausesche
Schule auf (vgl. Ahrens Naturrecht Il S. 285ff.), allein sie faßt den
Rechtsbegriff so weit, daß er auch die übrigen Staatszwecke in sich
aufnimmt.
2) Über den Zusammenhang der französischen und englischen
Ökonomisten mit Locke vgl. Hasbach Die allgemeinen philosophischen
Grundlagen der von Fr.Quesnay und Adam Smith begründeten
politischen Ökonomie (Schmoller Staats- und sozialwissenschaftliche
Forschungen X 2) 1890 S.50ff., und im Anschluß daran E.Biermann
Staat und Wirtschaft 1905 S.21ff. Eine allgemeine Darstellung der
Gesellschafts- und Staatslehre der Physiokraten bringt die gleichnamige
Abhandlung von B.Günizberg 1907 (Staats- u. völkerrechtl. Ab-
handlungen her. v. Jellinek u. Anschütz V1 3).