Full text: Allgemeine Staatslehre

254 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates. 
barer, da völlige Freiheit geistiger Betätigung des Individuums 
nicht nur mit der höchsten Ausbildung der Solidaritätsgefühle und 
-interessen vereinbarlich ist, sondern diese sogar jene Freiheit 
zur Voraussetzung haben. Je geistig höher und sozial freier ein 
Individuum ist, um so mehr wird es sich als ım Dienste der 
höchsten Solidarinteressen stehend betrachten. Ausbildung 
der Individualität ist daher selbst eines der höch- 
sten Solidarinteressen. Die Entwicklung eines Ganzen ist 
stets durch die Entwicklung seiner Glieder bedingt. 
Aus dem Dargelegten ergibt sich, daß ım Laufe der Zeiten 
das gerechtfertigte Gebiet staatlicher Tätigkeit stets breiter wird. 
Durch richtige Einsicht der ihm durch die Natur der Verhältnisse 
gesteckten Grenzen hat sich der Staat von Gebieten, die er als ıhm 
nicht gehörig erkannt hat, zurückgezogen, sich aber reichlich dafür 
entschädigt durch Zuwachs neuer, ihm angemessener Tätigkeit. 
Solche Feststellung wehrt aber dennoch nicht der Befürch- 
tung, daß schließlich die freie Bewegung des Individuums und 
damit dieses selbst eine stetig abnehmende Größe sei, denn 
jener Rückzug des Staates muß doch schließlich ein Ende haben, 
während der Zuwachs fortdauert. Und doch ist dies ein Irrtum. 
Nicht nur menschliche Solidarität, auch menschliche Freiheit ist 
im stetigen Wachstum begriffen. Faßt man den vieldeutigen Be- 
griff der Freiheit in dem für das moderne Individuum wichtigsten 
Sınne auf, demzufolge sie vom Staate nıcht nur nicht gehinderte, 
sondern sogar geförderte Betätigung menschlicher Fähigkeiten 
bedeutet, so ist das dem Individuum zustehende Maß solch mög- 
licher Betätigung in raschem Fortschreiten begriffen. Wachsende 
Zivilisation bat für den einzelnen Wachstum der Möglichkeiten, 
zu handeln, zur Folge. Eisenbahnen und Dampfschiffe haben die 
freie örtliche Bewegung des Individuums in ungeahnter Weise 
gesteigert. Die gewaltigen Bildungsmittel, die Staat und Ver- 
bände aller Art dem Menschen zum freien Gebrauch anbieten, 
haben das Wıssen und Können Ungezählter begründet und ge- 
hoben So eröffnen sich fortwährend neue Gebiete der Freiheit 
und, mit ibnen verbunden, neue Gebiete der Staatstätigkeit, die 
nicht zum geringsten der Regelung und dem Schutz solcher Frei- 
heit zugewendet ist. Wächst also der Bereich des Staates, so 
wächst auch der des Individuums, und das Ergebnis der Ge- 
schichte ist sowohl fortschreitende Bindung des Menschen als 
auch fortschreitende Lösung seiner Banden.
	        
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