Neuntes Kapitel. Entstehung und Untergang des Staates. 269
gerichteter Überlegung sein Dasein verdankt, so ist er zunächst
immer etwas Faktisches gewesen, zu dem, als er sich festigte,
Gewöhnung und Recht als gewaltige, das Tatsächliche auch in ein
Sein-sollendes umschaffende Faktoren 'hinzutraten.
Auch der Wechsel in den bestehenden Staaten, der sekundäre
Staatenbildungsprozeß, wird durch Vorgänge bewirkt, die gänzlich
außerhalb des Rechtsgebiets stehen. Krieg oder in anderer Form
geübter Zwang schaffen neue Staaten und vernichten alte. Daß
der Krieg zunächst völlige Rechtlosigkeit bedeute, wird ver-
ständlich, wenn man wiederum erwägt, daß Recht sich immer
zuerst in einem engeren Verbande ausbildet und sodann erst den
höheren, mehrere engere Verbände ın sich befassenden ergreift.
Eine Rechtsgenossenschaft jedoch zwischen staatlich getrennten
Völkern kann sich ungezählte Jahrtausende hindurch nicht aus-
bilden, weil die Grundlagen gemeinsamer Kultur fehlen, die eine
rechtliche Gesamtüberzeugung hervorzurufen imstande sınd. Selbst
dort aber, wo vereinigende geistige Elemente vorhanden sind,
wie in dem hellenischen Staatensystem, haben sie nicht die
Stärke, auch nur innerhalb dieses engen Kreises dıe Frage nach
rechtlichen Schranken der staatsbildenden Tätigkeit entstehen zu
lassen.
Auf ganz anderem Boden als das Altertum stand das Mittel-
alter der Frage nach der Entstehung des Staates gegenüber. Die
antike Lehre betrachtet den Staat als ein Produkt natürlicher
inenschlicher Anlagen, nicht als Erzeugnis des Rechtes. Selbst
diejenigen Theorien, welche die soziale Ordnung auf den vouos
zurückführten, verstehen unter der Satzung keineswegs die recht-
Iiche. Vielmehr soll dadurch nur die menschliche Willkür im
Gegensatz zu der menschlichem Willen entrückten Naturordnung
bezeichnet werden!). Von dem Gedanken aber, daß staats-
bildende Tatsachen Rechtstatsachen seien, findet sich in der
1) Über den Gegensatz von @öas und »öuos vgl. Windelband
Geschichte der Philosophie, 6. Aufl. 1912 S.60; Gomperz Griech.
Denker 1 S.323ff.; Rehm Gesch. S.12. Daß der Sicherungsvertrag, den
die Epikuräer dem Staate zugrunde legten, ein Vertrag im Rechtssinne
gewesen sei, wäre eine ganz falsche Auffassung. Die Epikuräer erkennen
nämlich ein Naturrecht nur insoweit an, als ein Naturtrieb den Menschen
gebietet, den Sicherungsvertrag zu schließen. Allein der dem modernen
Naturrecht zugrunde liegende Satz: pacta sunt servanda, ist ihnen
schlechthin unbekannt. Ihr Vertrag ist daher ein auf den inhaltlich
zusammenfallenden Einzelinteressen beruhender Modus vivendi.