Neuntes Kapitel. Entstehung und Untergang des Staates. 279
sukzession entspringenden Pflichten auf sich. Sodann aber nach
innen. Hier existiert allerdings kein Rechtssatz, der ıhn ver-
pflichtete, bestehendes Recht anzuerkennen, denn Völkerrecht
ordnet nicht die inneren Verhältnisse der Staaten, und ein anderes
Recht gibt es nicht, das.zwei voneinander geschiedene staatliche
Ordnungen miteinander verbinden könnte. Formell erscheint
hier zwar der Staat ganz frei, nach seinem Ermessen die neue
Ordnung zu gestalten, von der alten das herüberzunehmen, was
ihm beliebt: Dieser formellen Freiheit steht aber materielle Ge-
bundenheit gegenüber. Der neue Staat ıst nämlich durch seine
Zwecke determiniert. Gemäß dem ihm nach der Überzeugung
seiner Glieder. zukommenden Rechtszweck ist er materiell ver-
pflichtet, die geringstmögliche Erschütterung des bestehenden
Rechtszustandes vorzunehmen. Daher nımmt er alles innerhalb
der Grenzen des untergegangenen Staates bisher geltende Recht ın
seine Rechtsordnung auf, insofern es nicht notwendigerweise durch
die neue Ordnung der staatlichen Verhältnisse zerstört ıst oder
ein ausdrücklicher Akt der Aufhebung ihm die Geltung ge-
nommen hat!).
Das ist nicht etwa ein naturrechtlicher Satz, sondern ent-
spricht der herrschenden Praxis, so wie auch Abweichungen von
dieser Regel stets nach dem Stande der modernen Rechtsan-
schauungen als Unbill empfunden werden. Ist der Staat daher
auch formell frei in der Anerkennung des von ihm vorgefundenen
Rechtes, so ergeht doch an ihn die ethisch-politische Forderung,
dıese Anerkennung in den angegebenen Schranken vorzunehmen.
Sie erfolgt in der Regel stillschweigend. Die staatsbildenden
Mächte sind nämlich von den herrschenden Anschauungen über
das, was Recht sein soll, derart erfüllt, daß aus ihnen unmittel-
bar der präsumtive Wille folgt, alles nicht im Herrschaftsbereiche
des neuen Staates aufgehobene frühere Recht als Recht fernerhin
gelten zu lassen. Anderenfalls würde ja, bis ein ausdrücklicher
gesetzgeberischer Akt vorläge, auf den betreffenden Gebieten
Aus der neuesten Zeit vgl. die zusammenfassende Monographie von
W. Schoenborn, Staatensukzessionen (in Stier-Somlos Handbuch
d. Völkerrechts II?) 1913.
1) Bei Einverleibungen wird dieser Vorgang vermittelt durch die
juristische Tatsache, daß die Rechtsordnung des untergegangenen Staates
bisher von dem einverleibenden Staate anerkannt war, daher die Ver-
mutung für die Fortdauer dieser Anerkennung streitet.