Full text: Allgemeine Staatslehre

Zehntes Kapitel. Die geschichtlichen Haupttypen des Staates. 293 
Die traditionellen Ansichten vom hellenischen Staate sind 
auf zwei von Grund aus verschiedene Quellen zurückzuführen. 
Einmal sind sie entstanden unter dem dominierenden Einfluß der 
politischen Ideen des Plato und des Aristoteles, die beide 
dem Gedanken Ausdruck gegeben haben, das Individuum gehöre 
nicht sich an, sondern dem Staate. Dabei wurden aber stets die 
dieser Anschauung widersprechenden Ausführungen beider Denker!) 
außer acht gelassen. Sodann wırd auf die übrige politische Literatur, 
die den Staat und sein Verhältnis zum Individuum ganz anders 
gezeichnet hatte, gar keine Rücksicht genommen, die so wichtige 
historische Tatsache, daß der moderne Individualismus seiner 
theoretischen Seite nach ebenfalls auf antike Lehren zurückweist, 
entweder einfach ignoriert oder als angebliche Abweichung von 
der wahren hellenischen Staaisidee beiseite geschoben. Nun ist 
aber die individualistische Richtung der antiken Staatslehre nıcht 
minder in den sozialen und politischen Verhältnissen begründet 
gewesen wie die entgegengesetzte, sowie ja auch in der Gegen- 
wart widersprechende Auffassungen vom Staate aus den Gegen- 
sätzen ın der Gesellschaft mit gleicher Notwendigkeit und Ein- 
seitigkeit emporwachsen. Ferner wird übersehen, daß die beiden 
großen Denker Theorien aufstellten, die auch heute noch an der 
Wirklichkeit nachzuprüfen sind. Die platonischen und aristo- 
telischen Lehren für den adäquaten "Ausdruck des hellenischen 
Staatswesens zu halten, steht wissenschaftlich auf gleicher Linie, 
wie wenn man den deutschen Staat aus den Ausführungen, unserer 
Philosophen Kant, Fichte, Hegel, die ja eingehend die 
Grundfragen der Staatslehre erörtert haben, in seiner Eigenart 
erfassen zu können vermeint?). Endlich ist zu bedenken, daß 
eine hohe Gunst des Schicksals gerade die Werke der beiden 
großen hellenischen Denker vor dem Untergange bewahrte, der 
eine reiche politische Literatur anderer Schulen betroffen hat. 
  
2) Namentlich bei Beurteilung der Platonischen Lehre wird regel- 
mäßig übersehen, daß der Philosoph nur am guten Staate teilnehmen 
solle. Im realen, mangelhaften Staat aber weilt nur der Körper, nicht 
auch der Geist, wie Plato, Theaet. 173, ausführt. Über den Gegensatz 
der tatsächlichen politischen Verhältnisse des Griechentums zu den 
Platonischen Entwürfen vgl. Windelband Platon 1900 S. 168. 
2) Über die tiefgehenden Mängel der Staatsauffassung des Ari- 
stoteles, der weder Staatsrechtslehrer noch Historiker war, vgl. 
v.Wılamowitz-Moellendorff Aristoteles und Athen 11893 S. 265 ff.
	        
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