Full text: Allgemeine Staatslehre

298 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates. 
stitutionen einer fremden Vergangenheit. Dennoch ruhen auch 
sie keineswegs auf dem Gedanken einer völligen Entrechtung 
des Individuums zugunsten der Gesamtheit. Mit Recht hat Pöhl- 
ınann darauf hingewiesen, daß Plato die Gründung seines 
[dealstaates vor dem individuellen Interesse motiviert, indem er 
diesem nachzuweisen trachtet, es harmoniere mit dem sozialen 
derart, daß es in dem von ihm geheischten Staate am besten 
gewahrt werdet). Das Individuum im Athen des vierten Jahr- 
hunderts war eben eine so große und so anerkannte Macht, daß 
jeder soziale Reformator in erster Linie mit ihm rechnen mußte. 
Aristoteles in seiner Kritik der Platonischen Republik hat 
trotzdem die zu weitgehende Ignorierung des Wesens der Indi- 
vidualität als den Grundfehler der Platonischen Staatslehre hin- 
gestellt). 
Ein zweiter Grund für die Schätzung des lakedämonischen 
Staates als des normalen lag wohl in dem Einfluß, den Otfried 
Müller durch sein Werk über die Dorier ausübte. Unter seiner 
Einwirkung vornehmlich dürfte Hermann zu dem Satz gelangt 
sein, daß die spartanische Verfassung in ihren Grundzügen die 
allgemeine griechische Staatsidee am schärfsten und bewußtesten 
ausgeprägt hat?). Wiederum, wie so oft in der Geschichte der 
Staatslehre, wird ein Idealtypus geschaffen, von dem die nicht in 
ihn passenden geschichtlichen Erscheinungen als Abweichungen 
von der Norm abgewiesen werden. Der neueren, von Kon- 
struktionen freieren Forschung jedoch ist der Iykurgische Kosmos, 
der die freie Bewegung des einzelnen auf das äußerste be- 
schränkt und ihn völlig in der Gemeinschaft aufgehen läßt, ein 
Kunstprodukt, entstanden aus der Notwendigkeit der Zusammen- 
fassung aller Kräfte zur Behauptung der Herrschaft im eroberten 
Lande und aus dem Gegensatz zwischen Adel und Königtum, 
das durch die Staatsordnung gleichfalls gebunden wurde®). Der 
lakedämonische Staat ist daher, gleich den anderen dorischen 
Slaaten, keineswegs als der griechische Normalstaat zu betrachten. 
Vielmehr ist es, vermöge der von ihm heute noch ausgehenden 
  
1) Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus I 1893 
3.388 ff. 
*) Polit. II 2, 1261a ff. 
») A.a.0. S. 218. 
4) Vgl. Busolt Die griechischen Staats- und Rechtsaltertümer 
(im HB. d. klass. Altertumswissenschaft) 2. Aufl. 1892 S. 95.
	        
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