Zehntes Kapitel. Die geschichtlichen Haupttypen des Staates. 299
Kulturwirkungen, der Staat der Athener, den eine Entwicklungs-
geschichte des abendländischen Staates in erster Linie zu unter-
suchen hat. Im folgenden soll nun das bisher nicht genügend
Gewürdigte der Eigentümlichkeit des hellenischen Staates in. seiner
Bedeutung für die Erkenntnis der Gegenwart hervorgehoben
werden.
Der griechische Staat ist Stadtstaat, d.h. die Polis, ur-
sprünglich die hochragende Burg, sodann die um sie herumgebaute
Unterstadt, bildet den Staat oder doch den Mittelpunkt einer
Staatsgemeinde von der räumlichen Größe eines Schweizerkantonst).
Die Bedeutung der Kleinheit der Polis und ıhres städtischen
Charakters für die gesamte Kulturentwicklung von Hellas ist
oftmals dargelegt worden. Doch sind viele der also festgestellten
Züge nicht bloß dem hellenischen, sondern auch späteren städtischen
oder kantonalen Gemeinwesen staatlichen Charakters eigentümlich
gewesen.
Zur Eigenart des griechischen Staates aber gehört es, daß
er ın allen seinen Formen als erstes und wesentlichstes Merkmal
das der inneren-Einheit zeigt. Die antike Geschichte be-
ginnt mit dem ausgebildeten Staate. Soweit die klare Erinnerung
der antiken Völker zurückreicht, zeigt sie ihnen den Staat als
vollendete Institution?). Was man irrigerweise als Merkmal
des antiken Staates überhaupt bezeichnet hat, seine Allmacht,
seine alle Seiten des individuellen Lebens beherrschende Sphäre,
das gilt nur für den Ausgangspunkt der antiken Geschichte.
Zahlreich sind dıe Ursachen dieser merkwürdigen Erscheinung.
Was zunächst die innere 'Einheit anbelangt, so ıst sie der Polis
um so angemessener, als den Griechen die Monarchie nach deren
frühem Sturze nur mehr dem Namen nach bekannt?), die
2) Busolt S.24.
2) Über die Anfänge der griechischen Staatsordnung ist uns fast
gar nichts Sicheres bekannt; darüber Ed.Meyer Gesch. d. Altertums
Il 1893 S.79tf.; ferner über die primitiven Formen der Geschlechter-,
Stamm- und Gaustaaten S. 302ff., sowie Busolt, S.23f., über die noch
zur Zeit des Peloponnesischen Krieges bei einigen Stämmen bestehenden
Gaugenossenschaften. Vgl. auch L.Wenger Die Verfassung und Ver-
waltung des europäischen Altertums (Kultur der Gegenwart, Teil II,
Abt. II1) 1911 S.139£. Unzweifelhaft haben auch sie politische und
Kulteinheiten gebildet. In den homerischen Gesängen begegnen wir
bereits dem ausgeprägten Typus des Staates.
3) Die Unvollkommenheit der antiken monarchischen Ideen hat