Zehntes Kapitel. Die geschichtlichen Haupttypen des Staates. 303
getreten. Aristoteles findet beide Gegensätze in den populären
Anschauungen von der Demokratie und setzt sie mit aller wün-
schenswerten Schärfe auseinander!). Auch in diesem Punkte
haben die Neueren theoretisch nicht gefunden, was nicht schon
den Alten bekannt gewesen wäre.
Von einer bedingungslosen Hingabe des Individuums an den
Staat kann in dieser Epoche nicht mehr die Rede sein. Zudem
ist die Staatsgewalt schwach, die Beamten bestechlich, die Ver-
waltung kraft der Mißbräuche verächtlich. Der Staat wird ein
Spielball der Parteien und ein Mittel zur Befriedigung un-
gebändigter Selbstsucht. Ebenso schlecht oder vielmehr noch
schlechter war es mit der spartanischen Oligarchie bestellt, die
sich schließlich durch Periöken verstärken mußte, ohne daß der
Staat auch nur im entferntesten seinen früheren Charakter zurück-
gewann.
Prüft man demgegenüber die Beweise für die staatliche
Omnipotenz in der Blütezeit von Hellas, so findet man, daß sie
überwiegend dem altdorischen Staate entnommen sind. So die
Kinderaussetzung, der fortwährende Kriegsdienst, die Pflicht zur
Ehe und Kindererzeugung. Sonst werden wohl einzelne Be-
stimmungen aus den Gesetzen anderer Staaten angeführt, die indes
nicht viel Überzeugendes für die Hauptsache bieten. So erwähnt
F. de Coulanges zum Beweise seines Satzes, daß die Alten
die individuelle Freiheit nicht gekannt hätten, daß in Lokris das
Gesetz den Männern Wein zu trinken verbot, als ob es heute
keine Temperenzgösetze gäbe, daß Athen den Frauen untersagte,
mehr als drei Kleider auf die Reise mitzunehmen, als ob die
neuere Zeit keine Luxusbeschränkungen gekannt hätte, daß es
Pflicht war, in der Volksversammlung zu stimmen und öffentliche
Ämter zu bekleiden, als ob den modernen Gemeindegesetzen
und sogar Staaisverfassungen Ähnliches fremd wäre, daß das
Unterrichtswesen staatlich geordnet und die Kinder schulpflichtig
1) „Övo yap Eorıv ols N Ömuoxparia doxel wolodaı, tod To nAciorv eivaı
zUgiov xal ıj) Elevdepia' To ur yap Ölxarov icov Öoxsl eivaı, loov Ö°6 tı üv
Öo&n To nAndeı, Todt eivar xboıov, Elsvdeoov Ö& xal loov 16 6 u äv Bovintai
us noeiv @ore CS £&v Tals roradbraıs Önnoxpariaıs Exaoros &s Povierau.“
Pol. V 9, 1310a, 28ff. Ferner: „Er uEv oDv is Elevdepias onueiov Tovro,
öv tidevraı navres ol Önuorixoi ınjs nolıelas 6007" Ev Ö8 10 Liv os Bollerai
is. Toüro yap 10 is EAsvdepias Eoyov eival pacıv, eineg Tod Öovisdorrog
to Liv un ws Bovierau.“ VI 2, 1317b, 11ff. (Den Schluß der Stelle siehe
oben S. 212, Note 2.)