Full text: Allgemeine Staatslehre

Zehntes Kapitel. Die geschichtlichen Haupttypen des Staates. 305 
gegen die zahllosen rechtlichen und sozialen Zurücksetzungen, 
welche Menschen wegen ihres Glaubens oder Unglaubens noch 
im gepriesenen Zeitalter der garantierten Grundrechte erfahren 
haben! Wie wäre der blühende Handel Athens, seine inter- 
nationale Stellung möglich gewesen ohne Anerkennung indivi- 
dueller wirtschaftlicher Freiheit?!) Haben doch auch die Über- 
lieferungen von den Eingriffen des Staates in die Privatrechts- 
sphäre Analogien in der neueren Geschichte. Der Schuldenerlaß 
war doch nur eine außerordentliche Maßregel, der sich die — 
in Deutschland erst seit 1879 verbotenen — Moratorien der 
Tendenz nach an die Seite stellen lassen. Neuere Forschungen 
haben dargetan, daß das griechische Privatrecht hoch entwickelt 
war?). Die antike Wirtschaft ist ihrem Ursprunge nach Oiken- 
wirtschaft, auf der Selbständigkeit der Einzelwirtschaft, nicht 
etwa auf den Prekarien einer kommunistischen Staatswirtschaft 
beruhend. Schon daß den Griechen das, namentlich in Athen 
sehr ausgebildete, testamentarische Erbrecht bekannt war, ist ein 
Beweis für das Dasein eines hohen Grades privatrechtlicher 
Freiheit. Direkte Steuern galten den Athenern als Freiheits- 
beschränkung, kommen daher nur in Ausnahmefällen vor, was 
wiederum auf das Bewußtsein privatrechtlicher Selbständigkeit 
hindeutet. Die oft so drückenden Leiturgien haben allerdings 
reichlichen Ersatz der direkten Steuern geboten, allein doch nur 
für die Minderzahl der Vermögenden. Die zahlreichen Eigentums- 
beschränkungen in der Blütezeit Athens sind ausschließlich 
polizeilicher Natur, denen das moderne Verwaltungsrecht anders- 
  
Untersuchungen zum Sokrates-Prozesse, Sitzungsberichte der Kais. Aka. 
demie der Wissensch. in Wien, Philos.-hist. Klasse CXLV 1902 S. 18 £f., 
in eingehender Darlegung entgegengetreten; aber auch er kommt zu dem 
Resultat, daß den Asebieprozessen keineswegs Intoleranz oder Fanatismus 
zugrunde lag, vielmehr habe es sich nicht so sehr um ein religiöses als 
um ein politisches Delikt gehandelt. Bei der Mangelhaftigkeit unserer 
Kenntnis des Asebiebegriffes ist es gar nicht gewiß, ob es sich bei ihr 
immer um Bestrafung eines kriminellen Delikts oder häufig nur um Akte 
der Sittenpolizei handelte. Seit Sokrates ist in Athen niemand wegen 
philosophischer Lehren verfolgt worden; die Anklage gegen Aristoteles 
war nur ein politischer Vorwand. Vgl. Beloch a.a.O. II i897 S. 438. 
1) Die trotzdem bestehenden Handelsbeschränkungen tragen mer- 
kantilistischen Charakter, haben daher auch nichts spezifisch Antikes. 
2) Über die Bedeutung des griechischen Privatrechtes vgl. Mitteis 
a.a.0. S. 61ff. 
G. Jellinek, Allg. Staatslehre. 3. Aufl. 30
	        
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