306 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
geartete, aber ebenso weitgehende gegenüberstellen kannt). Die
‚Gesamtheit der polizeilichen Freiheitsbeschränkungen war aber
viel geringer als in der Gegenwart, wo das öffentliche und
Privatleben ganz durchdrungen ist von einem System polizeilicher
Gebote und Verbote?).
Zudem war im hellenischen Staate stets der Gedanke
herrschend, daß dem Individuum nur kraft Gesetzes Leistungen
auferlegt werden konnten, wenn auch ausnahmsweise Spezial-
verfügungen durch yroioua und Ostrakismos®) vorkamen. Der
Gedanke jedoch, den die moderne Rechtsstaatstheorie für sich in
Anspruch nimmt, daß alle dem einzelnen zugewandte Regierungs-
tätigkeit nur kraft Gesetzes und innerhalb der Schranken des
Gesetzes sich vollziehen solle, war in Griechenland, Athen allen
voran, in voller Klarheit lebendig. Im Begriff des Gesetzes liegt
aber die Vorstellung der Beschränkung verborgen. Montesquieu
hat seine berühmte Definition der Freiheit) gewiß aus der Be-
trachtung des antıken Staates geschöpft.
Sollte nun in der Tat kein Unterschied zwischen antikem
und modernem Staate in der Auffassung ihrer Stellung zum
Individuum vorhanden sein? Die Antwort lautet: Doch, trotzdem
aus den Institutionen ein solcher Gegensatz nicht deduziert werden
kann, tritt er dennoch In bedeutsamer Weise hervor.
1) Das griechische Eigentum steht dem germanischen näher als dem
römischen (vgl. Mitteis S.70). Die geringere Schätzung des griechischen
Rechtes ist wohl hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß man es immer
mit dem römischen verglich. Schon seine lokale Zersplitterung aber läßt
die Parallele mit dem mittelalterlichen deutschen Recht zulässiger er-
scheinen. Trotz aller sonstigen Unterschiede sind beide Rechte von der
formalen Vollendung des römischen Rechts gleich entfernt. So wenig
aber deshalb heute dem einheimischen deutschen Recht ein Kundiger den
ausgeprägten Charakter einer eigenartigen, selbständigen Rechtsordnung
absprechen wird, so wenig darf man das griechische Recht als un-
entwickeltes Recht bezeichnen.
2) Vgl. darüber namentlich Freese Die Freiheit des einzelnen in
der attischen Demokratie, Stralsunder Gymnasialprogramm, 1858 S. Sf.
9) Eher ein Zeichen der Schwäche als der Stärke des athenischen
Staates. Vgl. L.Felix Gedanken über den antiken Staat. Beilage zur
Allg. Zeitung 1896 Nr. 117 S.1.
4) „Dans un Etat, c’est & dire dans une soci&t& oü il y a des lois,
la libert& ne peut consister qu’ä pouvoir faire ce que l’on doit vouloir,
et a n’ötre point contraint de faire ce que l’on ne doit pas vouloir.“ X13.