322 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
das Verhältnis des Staates zu den religiösen Interessen des.
Volkes gestaltet sein mag, so ist doch selbst beim Systeme des
Religionszwanges der Staat durch unverrückbare Grenzen ein-
geengt. Er kann zwar Bekenntniszwang üben, das Bekenntnis
selbst aber nicht nach Gutdünken modifizieren. Je unabhängiger
hingegen die kirchliche Organisation von der staatlichen ist,
zumeist also in dem Gebiete der abendländischen Kirche, desto
größer und sichtbarer ist der Spielraum, den der Staat kraft
der Gestaltung der historischen Verhältnisse einer ihm selb-
ständig gegenüberstehenden Macht einräumen muß.
Diese Beschränkung und Spaltung des mittelalterlichen
Staates wird aber noch gesteigert dadurch, daß in den meisten
Fällen die große Masse des Volkes dem Staate überhaupt ent-
fremder wird. Das gilt nicht etwa nur für die deutschen Terri-
torien, in welchen der Staatsgedanke vorerst noch nicht lebendig
ist, wo schließlich nur kümmerliche Reste der Unterordnung
des einzelnen unter das Reich existieren, sondern selbst da,
wo die Stände sich als politische Nation fühlen, was eben den
Ausschluß der größten Zahl der Untertanen vom öffentlichen.
Leben bedeutet. Dazu kommen die Verhältnisse der Unfreiheit
ın ihren zahlreichen Abstufungen, die, mit wenigen Ausnahmen,
bewirken, daß die aktive Teilnahme am Staate auf einen ver-
hältnısmäßig viel kleineren Kreis eingeschränkt wird als in den
antiken Staaten mit ihren staatsfremden Sklaven und Schutz-
genossen.
Die ersten nachhaltigen Versuche, die Staatseinheit zu ge-
winnen, gehen im späteren Mittelalter von staatsähnlich organi-.
sierten Städten aus. Wiederum wird, in anderer Form allerdings
als der ursprünglichen, der Gedanke der Polis lebendig. In
Italien hat, wie erwähnt, der mittelalterliche Dualismus nie
festen Boden gefaßt. Die italienischen Stadtrepubliken des Mittel-
alters sind inmitten einer dualistisch gearteten Staatenwelt mo-
nistisch gestaltet. Die italienische Stadttyrannis des 14. und
15. Jahrhunderts schafft das Bild einheitlicher, von einem macht-
vollen und rücksichtslosen Willen zusammengehaltener Gemein-
wesen!). Mit der Renaissance wird in Italien auf historisch dazu
vorbereitetem Boden der moderne Staatsgedanke geboren. Der
Staat, wie ihn Machiavelli sich denkt, trägt zwar viele Züge
1) Vgi. die glänzende Schilderung von J. Burckhardt a.a.0. 1
Kapitel 1.