4 Erstes Buch. Einleitende Untersuchungen.
gebrochenen Einheit alles gesellschaftlichen Lebens die eine ohne
die andere nicht zu bestehen vermag. So läßt sich z.B. ein
entwickelter Staat obne Volkswirtschaft nicht auffinden, ebenso-
wenig jedoch eine Volkswirtschaft ohne Staat. Aber trotzdem ist
begriffliche Trennung beider Ordnungen möglich und notwendig.
Denn, wie später näher ausgeführt werden wird, ist alle Er-
kenntnis mitbedingt durch die Fähigkeit, das zu erkennende
Objekt zu isolieren, es herauszuheben aus den Umhüllungen,
die es umgeben, und den Verbindungen, in denen es sein Da-
sein führt.
Zu den sozialen Erscheinungen, die der planmäßigen Leitung
durch einheitlichen Willen entbehren, zählen die Sprache, die
Sitte, die wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeit, die Volks-
wirtschaft. Durch einen einheitlichen Willen zusammengehaltene
und geleitete soziale Ordnungen sind die zahlreichen Verbände,
die das wirtschaftliche, geistige, ethische, religiöse Gemeinleben
hervorruft, so Familie, wirtschaftliche Unternehmungen, Vereine
aller Art, Kirchen. Die wichtigste, auf menschlicher Willens-
organisation beruhende soziale Erscheinung aber ist der Staat,
dessen Wesen an dieser Stelle als gegeben vorausgesetzt werden
muß. Jede Erörterung des Wesens einer wissenschaftlichen
Disziplin muß Resultate an den Anfang stellen, die erst später.
sicher begründet werden können.
Da alle anderen organisierten Ordnungen ohne den Staat
nicht zu bestehen vermögen, da ferner der Staat vermöge des
Umfanges seiner Tätigkeit und des Einflusses, den er auf die
Menschen übt, das ganze soziale Leben berührt und bestimmt,
so hat man bis in die Gegenwart häufig die Gesamtheit der
Gesellschaftswissenschaften, mit Ausnahme der entweder in diesem
Zusammenhange ignorierten oder gar der Naturwissenschaft zu-
gewiesenen Sprachwissenschaft!), als Staatswissenschaften be-
zeichnet, eine Terminologie, die als unzutreffend erkannt wird,
wenn man erwägt, daß das vom Staate im sozialen Leben Be-
wirkte und Ausgestaltete von ihm als der Ursache wohl zu unter-
scheiden ıst. Die Staatswissenschaft hat es vielmehr ausschließ-
1) Letztere Ansicht vertreten z.B. Schleicher Die Darwinsche
Iheorie und die Sprachwissenschaft 1873 S.7; Max Müller Die Wissen-
schaft der Sprache (übersetzt von Fick und Wischmann) I 1892 S. 21 ff.
Die richtige, nunmehr herrschende Anschauung entwickelt Paul Grundriß
der germanischen Philologie 2. Aufl. I 1896 S. 160.