Elftes Kapitel. Staat und Recht. 333
führen lassen. Unwidersprochen bestehen die Zwecke des Rechtes
in dem Schutz und der Erhaltung (in engen Grenzen auch
Förderung) menschlicher Güter oder Interessen durch mensch-
liches Tun und Unterlassen. Selbst wer dem Rechte noch weitere
Zwecke setzt, muß neben diesen doch auch jene als die nächsten,
unmittelbaren Zwecke gelten lassen. Allein der konservierende
Zweck ist bis zu einem gewissen Grade auch den anderen auf
den Willen wirkenden großen sozialen Mächten eigen, so daß
aus ihm ein scharfes Unterscheidungsmerkmal nicht gewonnen
werden kann. Ein treffendes Kriterium kann daher nur in der
Art der Normen selbst liegen. Die Rechtsnormen weisen nun
folgende wesentliche Merkmale auf:
1. Es sind Normen für das äußere Verhalten der Menschen
zueinander.
2. Es sind Normen, die von einer anerkannten äußeren
Autorität ausgehen.
3. Es sind Normen, deren Verbindlichkeit durch äußere
Mächte garantiert ist.
Durch diese Merkmale unterscheiden sich die Rechtsnormen
von den Normen der Religion, der Sittlichkeit und der Sitte, bei
denen eines oder das andere mangelt.
Alles Recht hat als notwendiges Merkmal das der Gültig-
keit. Ein Rechtssatz ist nur dann Bestandteil der Rechtsordnung,
wenn er gilt; ein nicht mehr geltendes Recht oder ein Recht,
das erst Geltung gewinnen soll, ist nicht Recht im wahren Ver-
stande des Wortes. Eine Norm gilt dann, wenn sie die Fähig-
keit hat, motivierend zu wirken, den Willen zu bestimmen. Diese
Fähigkeit entspringt aber aus der nicht weiter ableitbaren Über-
zeugung, daß wir verpflichtet sind, sie zu befolgen !). Die Positivität
1) Selbstverständlich ist die Gültigkeit des einzelnen Rechtssatzes
damit keineswegs subjektiver Willkür anheimgegeben. Denn die psycho-
logische Grundtatsache des sich Verpflichtetwissens durch eine Norm
ist in keiner Weise individuellem Belieben überlassen, vielmehr tritt die
Norm auch dem ihr Widerstrebenden mit dem nicht zu bannenden An-
spruch auf Gültigkeit entgegen. Es ist ja oft hervorgehoben worden,
daß der Mörder oder Dieb durchaus nicht die Gültigkeit der von ihnen
übertretenen Normen bestreiten, daher ihnen die Strafe wohl höchst
unerwünscht, aber nicht als unrecht erscheint. Die Überzeugung von der
Gültigkeit der Norm wohnt aber selbst den unscheinbarsten gesetz-
geberischen Vorschriften inne, da'die Überzeugung von der rechtsetzenden
Macht des Gesetzgebers besteht.