Full text: Allgemeine Staatslehre

Elftes Kapitel. Staat und Recht. 335 
des Zwanges nach, so findet man, daß er überwiegend als kom- 
pulsiver Zwang auftritt, d. h. daß das Recht auf dem Wege der 
Motivation seine Zwecke erreicht. Es ist aber gar nicht ab- 
zusehen, warum nur die durch Furcht vor rechtlichen Nachteilen, 
Drohung oder ähnliche Mittel erfolgende Motivation als Rechts- 
garantie zu betrachten sei. Zu den Zeiten der naturrechtlichen 
Jurisprudenz fehlte jede tiefere Untersuchung der verschiedenen 
auf das Recht wirkenden sozialen Mächte. Da wurde vor allem 
nicht erkannt, wie kraftlos das Recht wäre, wenn nur die staat- 
lichen Machtmititel ihm Gewähr böten. Ein Blick auf das 
Kirchenrecht hätte aber schon jene Zeit lehren können, daß eine 
Rechtsordnung mit anderen als den gemeiniglich unter Rechts- 
zwang verstandenen Mitteln garantiert werden kann. Zwar kannte 
das Naturrecht auch den Gewissenszwang, setzte diesem jedoch 
den Rechtszwang als äußeren Zwang entgegen; was nur durch 
Gewissenszwang gewährleistet war, erschien ihm nicht als Recht. 
Diese Theorie bis in ihre neuesten Spielarten übersieht, daß 
es außer dem Staate noch andere soziale Mächte gibt, die 
wesentliche Garantien der Erfüllung der Rechtsnormen darbieten. 
Der nichtorganisierte Druck, den die allgemeine soziale Sitte, die 
besonderen Anstandsregeln bestimmter Gesellschaftsklassen und 
Berufe, die kirchlichen Verbände, Presse und Literatur auf das 
Individuum und die Gesamtheit ausüben, ıst viel stärker als 
  
Rechtsnorm und subjektives Recht 1878 S. 223ff.; Binding Die Normen 
u. ihre Übertretung 2. Aufl. 1890 1 S. 484 ff.;, Merkel Jur. Enzyklopädie 
856; Triepel Völkerrecht und Landesrecht 1899 S. 103£f.; H.Gutherz 
Studien zur Gesetzestechnik I 1908 S.48ff., 64; Stammler Theorie 
der Rechtswissenschaft 1911 S. 169; Tezner im Arch. d. ö. R. 28. Bd. 
(1912) S.328£.; W.Jellinek Gesetz, Gesetzesanwendung S.113. — 
Für die Zwangsnatur des Rechts tritt neuerdings wieder P.Krückmann 
ein, Einführung in das Recht 1912 5.131, namentlich aber, mit polemischen 
Ausführungen gegen die Darlegungen des Textes, Kelsen, Hauptprobleme 
der Staatsrechtslehre 1911 S.22@ff. Eine Norm, die nur aus sittlichen 
oder religiösen Motiven befolgt werde, bleibe eine Norm der Sitten- 
ordnung oder der Religion, auch wenn der Staat sie von sich aus 
anordne. Kelsen scheint zu übersehen, daß schon der Name ‚„Recht“ 
eine Macht auf den Befehlsempfänger ausübt, und daß es etwas andres 
ist, ob die Sittenordnung voraussetzungslos ein Verhalten verlangt oder 
ob sie ihre Befehle an einen Rechtssatz als Tatbestand anknüpft. Der 
Monarch wird schon aus sittlichen Gründen sein Wort nicht brechen, 
er wird es aber noch zehnmal schwerer tun,. wenn er weiß, daß es ein 
Rechtssatz ist, der ihn bindet.
	        
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