340 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
überall die psychologische Tendenz hat, sich in Geltendes um-
zusetzen, so erzeugt es im ganzen Umfange des Rechtssystems
die Voraussetzung, daß der gegebene soziale Zustand der zu
Recht bestehende sei, so daß jeder, der eine Veränderung in
diesem Zustand herbeiführen will, sein besseres Recht zu be-
weisen hat. Darauf in erster Linie beruht der Besitzesschutz als
der Schutz der faktisch bestehenden Besitzverhältnisse. Hätten
die Juristen seit Savigny dieses Thema im Zusammenhange
mit der ganzen Rechtsordnung erörtert, anstatt den Blick auf das
Einzelproblem zu richten, so wäre wohl der Streit der Meinungen
über diese Materie bald allseitig geschlichtet worden!). Denn
nicht nur der unrechtmäßige Besitz ist in pendenti geschützt,
sondern auch die nichtige Ehe, bevor durch Urteil die Nichtig-
keit ausgesprochen wurde, das im Ehebruch erzeugte uncheliche
Kind, ehe zugunsten des anfechtenden Mannes durch den Richter
entschieden wurde. Im öffentlichen Recht gilt der in eine Kammer
Gewählte in der Regel so lange als Kammermitglied, bis seine
Wahl kassiert ist; die Ungesetzlichkeit der Wahl hat keinen
Einfluß auf die von ıhm unterdessen ın der Kammer vor-
genommenen Abstimmungen. Hat der Standesbeamte das Ge-
schlecht eines Kindes irrtümlicherweise in das Geburtsregister falsch
eingetragen, so darf kein das richtige Geschlecht bezeichnender
Geburtsschein ausgestellt werden, ehe kraft richterlichen Auf-
trages die notwendige Berichtigung im Standesregister angemerkt
wurde?2). Im Prozeß ist der Satz, daß dem Kläger die Beweis-
last obliege, ein Anwendungsfall des allgemeinen Prinzipes, daß
das Gegebene zuvörderst das zu Recht Bestehende sei. Selbst
die rechtliche Beurteilung der Staatsumwälzungen operiert mit
dieser den normalen Rechtsverhältnissen zugrunde liegenden An-
schauung. Die Ausübung der Staatsgewalt durch den Usurpator
schafft sofort einen neuen Rechtszustand, weil hier keine Instanz
vorhanden ist, die die Tatsache der Usurpation rechtlich un-
geschehen machen könnte. Im Völkerrechte basiert die heute
allgemein anerkannte Theorie der vollendeten Tatsache auf dem-
1) Im einzelnen mögen auch Nützlichkeits- oder Billigkeitserwägungen
zur Ausgestaltung der Anschauung von der normativen Geltung des Fak-
tischen geführt haben. Die überraschende Gleichartigkeit der einzelnen
Fälle deutet aber unwiderleglich auf eine gemeinsame Ursache hin.
2) Reichsgesetz über die Beurkundung des Personenstandes und der
Eheschließung vom 6. Februar 1875 88 65, 66.