Elftes Kapitel. Staat und Recht. 349
wieder, die das Frankfurter Parlament sich auf Grund eines
naturrechtlichen Dogmas zugeschrieben hatte. Ein späterer Bundes-
beschluß hat den Frankfurter Grundrechten die Verbindlichkeit
als Gesetze, die sie ja gemäß dem vom reaktivierten Bundestag
eingenommenen Standpunkte gar nicht gehabt hatten, ausdrück-
lich wieder genommen), ein schlagender Beweis dafür, daß selbst
der Bundestag sich nicht der Anschauung erwehrt hat, daß ein
Sein-sollendes durch Überzeugung von seiner Rechtmäßigkeit un-
mittelbar Rechtskraft gewinnen konnte.
Daß die Vorstellung derartiger angestrebter Rechte als
bereits existierender auch in der Gegenwart lebendig ist, lehrt
ein Blick auf die heutige sozialistische Bewegung und die sie be-
gleitende Literatur. Das Recht auf Existenz, das Recht auf
Arbeit, das Recht auf den vollen Arbeitsertrag gehören dem
Inventar des sozialistischen Naturrechtes?) an, und der. überzeugte
Sozialist hat an seinen „ökonomischen Grundrechten‘3) nicht
minder einen Maßstab zur Prüfung des Geltenden auf seinen
wahren Rechtsgehalt, wie ihn der französısche Radikale des
18. Jahrhunderts an seinem contrat social besaß.
So wird denn zweifellos auch ın alle Zukunft die Vorstellung
von einem Rechte de lege ferenda ein gewaltiger Faktor im
Rechtsbildungsprozesse bleiben. Die gegen die Existenz eines
Naturrechtes gerichtete wissenschaftliche Kritik hat den Nach-
weis geführt, daß das Naturrecht in allen seinen mannigfachen
und. wechselnden Gestalten nicht den Charakter der Gültigkeit
und daher nicht den des Rechtes habe, und verwirft es deshalb.
Allein sie erklärt die Erscheinung des Naturrechtes nicht; die
geschichtliche Tatsache, daß, von dem ersten Augenblicke an-
gefangen, da man über das Wesen des Rechtes nachdachte, auch
die Überzeugung von dem Dasein eines Naturrechtes auftaucht,
das seine Gültigkeit nicht auf menschliche Satzung zurückführt,
1) Bundesbeschluß vom 23. August 1851. G.v.Meyer II 5.561.
Die Bundesversammlung erklärt, daß die Grundrechte weder in der Form,
in der sie unter dem 27. Dezember 1848 erlassen wurden, noch als Be-
standteil der Reichsverfassung für rechtsgültig gehalten werden können,
und fügt hinzu: ‚Sie sind deshalb insoweit in allen Bundesstaaten als
aufgehoben zu erklären.“
2) Vgl. die gründlichen Ausführungen v. A.Menger Das Recht
auf den vollen Arbeitsertrag, 4. Aufl. 1910.
®) A.Menger ebenda S.5,6.