Full text: Allgemeine Staatslehre

320 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates. 
vielmehr für diese die höhere Norm Bildet, wird durch moderne 
juristische Kritik nicht verständlich. Von der bereits vor So- 
krates auftauchenden Lehre von dem gvöoeı Öixauor an, die 
bei Aristoteles in vollster Klarheit ausgebildet ist und von 
der Stoa zur Grundlage ihrer Ethik und Rechtsphilosophie erhoben 
wird, durch die Theorie Ciceros und der römischen Juristen 
vom ius naturale hindurch hat die Idee des Naturrechtes das ganze 
Mittelalter beherrscht und ist nicht etwa, wie sogar heute noch 
manche glauben, in der neueren Zeit von Hugo Grotius und 
anderen aufgestellt worden, sondern sie ist nur im Gegensatz zu 
der früheren theologisch gefärbten Spekulation unter erneutem 
Einfluß der Alten sowohl klarer herausgearbeitet, als auch zu einer 
schulgerechten Doktrin und späterhin zu einer revolutionären 
Lehre umgebildet worden. Daß es aber heute noch keineswegs 
aus den Anschauungen der es ablehnenden Juristen verschwun- 
den, die Rechtswissenschaft vielmehr überall von naturrecht- 
lichen Voraussetzungen und Deduktionen durchtränkt ist, hat 
Bergbohm in eingehendster, höchst belehrender Weise dar- 
gelegt !). 
Eine solche großartige historische Erscheinung wird indes 
dadurch noch nicht begriffen, daß man sie widerlegt oder verwirft. 
Die moderne Jurisprudenz steht in der Art ihrer Ablehnung aller 
Ideen, die eın Recht neben oder über dem positiven Recht be- 
haupten, auf der Stufe derer, welche die Religionen in die 
wahren und die falschen einteilen, was sicherlich das historische 
Verständnis der Gesamtheit der religiösen Erscheinungen von 
vornherein unmöglich macht. Was der modernen Rechtswissen- 
schaft mangelt und durch bloße Konstatierung der Positivıität 
alles Rechtes nicht ersetzt werden kann, ist eine in die Tiefe 
dringende Lehre von den rechtserzeugenden Kräften. Sie begnügt 
sich mit der Aufstellung von Gewohnheit und Gesetz als Rechts- 
quellen, ohne sich, abgesehen höchstens von einigen allgemeinen 
Bemerkungen, viel darum zu bekümmern, welche Mächte es sind, 
die den Lauf dieser Quellen bestimmen. Die große prinzipielle 
Frage: Wie wird Nichtrecht zu Recht? wird vom Juristen dem 
Rechtsphilosophen zugeschoben, dessen Lösungen des Problems 
aber von jenem entweder ignoriert oder belächelt werden 2). Und 
  
N A,a.0. S. 232£f. 
*) Vgl. z.B. die eingehende Kritik und Verwerfung des Rechtsgefühls
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.