Elftes Kapitel, Staat und Recht. 351
doch muß das Wesen der rechtserzeugenden und daher dem
Rechte vorangehenden Mächte erst von Grund aus erkannt werden,
ehe man mit sicherem Blicke Recht von Nicht-mehr-Recht und
Noch-nicht-Recht zu sondern imstande ist.
Überblickt man die dritthalbtausendjährige Geschichte der
naturrechtlichen Vorstellungen, so wird man auf Grund ruhiger
Erwägung zu dem Schlusse gelangen, daß der nie gänzlich zu
bannende Schein eines Rechtes, das vermöge seiner inneren Ge-
rechtigkeit mit sittlicher Notwendigkeit verbindlich und darum
geltend ist, mit auf unserer psychischen Ausstattung basiert ist.
Damit ist natürlich über seinen Inhalt und seinen objektiven
Wahrheitsgehalt gar nichts ausgesagt. Dieser Inhalt ist vielmehr,
wie selbst eine flüchtige historische Untersuchung ergibt, zeitlich
und örtlich wechselnd, und der Schluß von ihm auf ein objektiv
Gerechtes ebenso metaphysischer Art wie jede dogmatische Be-
hauptung einer objektiven ethischen Macht. Um in dem Gleichnis
mit den Religionen zu bleiben, so wird der Forscher aus der,
wie manche behaupten, beı allen, sicherlich aber bei den über
die Stufe tiefster Wildheit heraufgehobenen Völkern vorhandenen
Erscheinung religiöser Vorstellungen den Schluß ziehen, daß
diese notwendig bestimmten Anlagen und Bedürfnissen des Men-
als rechtserzeugender Macht — einer Auffassung, die neuerdings wieder
R.Loening vertritt (Über Wurzel und Wesen des Rechts 1907 S.28) —
bei Bergbohm S.454ff. und über das Ungenügende einer solchen im
wesentlichen bloß negativen Kritik die vorzüglichen Ausführungen von
Bernatzik in seiner Anzeige des Bergbohmschen Werkes in Schmollers
Jahrbuch 1896 XX S.653ff. Eingehende Erörterungen über das Rechts-
gefühl neuestens bei Fr. Klein Die psychischen Quellen des Rechts-
gehorsams und der Rechtsgeltung 1912 S.37ff. Einen neuen Weg ver-
sucht Stammler, Die Lehre vom richtigen Recht, einzuschlagen, indem
er im geltenden Recht das der Rechtsidee Entsprechende, dieses somit
als positives Recht aufzuweisen trachtet. Nur vermag er kein Mittel
anzugeben, die Erkenntnis der Richtigkeit des Rechtes von subjektivem
Gutdünken zu befreien, was allerdings nicht ihm zuzurechnen ist, da er
an cin festes, sittliches Ideal und dessen Allgemeingültigkeit glaubt.
Für die vordringende Kraft einer solchen Lehre wäre es aber von der
höchsten Bedeutung, zu erfahren, wie die Andersgläubigen zu bekehren
sind, zumal wenn diese jenem „richtigen Rechte“ ein anderes mit
gleicher Überzeugungskraft entgegenstellen. Man denke z.B. nur an die
Stellung der katholischen Rechtslehre zur Ehescheidung, die nach
Stammler, S.576ff., zum richtigen Recht gehört! Gegen Stammler
auch Hatschek ım Jahrb.d.ö.R. III 1909 5.56 ff.