Full text: Allgemeine Staatslehre

Elftes Kapitel. Staat und Recht. 353 
gischen Grundtatsachen, auf denen die Möglichkeit einer Rechts- 
ordnung überhaupt beruht, 
Sozialpsychologische Untersuchung ergibt nun, daß für die 
Ausbildung der Überzeugungen von dem Dasein einer Rechts- 
ordnung diese Begleiterscheinung von nicht geringerer Bedeutung 
ist als die Fähigkeit des Umsetzens tatsächlicher Übung in 
Normen. Würde bloß das Tatsächliche als normativ anerkannt 
werden, so käme es in jeder geschichtlichen Epoche zu einem 
Punkte, wo vermöge der Umänderung der gesellschaftlichen Ver- 
hältnisse der Rechtscharakter des Tatsächlichen entschwände, ohne 
daß etwas Neues an die Stelle zu treten vermöchte. Lange 
Zeiträume wilder Anarchie wären die notwendige Folge einer 
derartigen einseitigen Begabung der menschlichen Natur. Die 
Vorstellungen eines natürlichen oder vernünftigen Rechtes wirken 
aber energisch mit, um selbst tiefgreifende, sich rasch vollziehende 
Änderungen im Staats- und Rechtszustand zu legalisieren. Sie 
allein vermögen, noch ehe gewohnheitsmäßige Überzeugungen 
Platz greifen können, im Falle des Bruches der gegebenen Staats- 
ordnung der neuen, an die Stelle der vernichteten tretenden 
Ordnung sofort ganz oder doch in wesentlichen Teilen Rechts- 
charakter zu verleihen. Noch ehe Gewöhnung die Umsetzung 
des Tatsächlichen in Normatives vollzieht, wirkt die Überzeugung 
der Vernünftigkeit der‘ neuen Ordnung in solchem Falle die 
Vorstellung ihrer Rechtmäßigkeit aus. Daher kann es kommen, 
daß die durch eine gelungene Revolution vollzogene Änderung 
der Staatsordnung sofort, indeın sie das Volk in seiner großen 
Mehrzahl billigt, als zu Recht bestehend angesehen wird. So 
wurde der Sturz Napoleons Ill. durch die Revolution vom 
4. September 1870 von dem größten Teil der Franzosen als 
rechtmäßig empfunden, und demgemäß hat sich die Verwandlung 
des zweiten Kaiserreiches in die dritte Republik fast ohne jeden 
rechtlichen Hiatus vollzogen. 
Von dem falschen Dogma der Geschlossenheit des Rechtis- 
systems erfüllt, übersieht die Jurisprudenz in der Regel, daß die 
Rechtsgeschichte zugleich auch eine Geschichte der Rechtsbrüche 
und der rechtsleeren Räume innerhalb der Rechtsordnungen und 
neben ihnen ist, und vermag daher nur vermittelst einer an Un- 
richtigkeit den kühnsten naturrechtlichen Spekulationen vergleich- 
baren Fiktion den Schein durchgängiger Rechtskontinuität zu 
wahren. 
G. Jellinek, Allg. Staatslehre. 3. Aufl. 93
	        
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