Full text: Allgemeine Staatslehre

358 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates. 
mit der exekutiven Gewalt bekleidete Ministerium habe unmittel- 
bar vor Ablauf der Prästdentschaftsperiode oder dem Tode des 
Präsidenten seine Demission gegeben und weigere sich, die 
Geschäfte weiterzuführen, weil es für sie die Verantwortlichkeit 
nicht übernehmen könne, wie löst das „lückenlose“ Staatsrecht 
die sich hieraus ergebenden Fragen? Wem steht in solchen 
Fällen nach Recht und Gesetz die vollziehende Gewalt zu, 
wie wird schließlich der Forderung der Verfassung, daß ein 
Präsident gewählt werde, genug getan?!). 
Ein anderes Beispiel aus dem Rechte eines absoluten Staates. 
Nach dem Ukas Peters des Großen vom 5. Februar 1722 wurde 
der russische Thron durch Ernennung des Nachfolgers von seiten 
des regierenden Kaisers besetzt?2.. Wenn nun ein russischer 
Kaiser starb, ohne die Einsetzung eines Nachfolgers vorgenommen 
zu haben, wie dies mehrmals der Fall war, wer war dann gemäß 
dem lückenlosen Staatsrecht Kaiser von Rußland ?3). 
Das Dogma der Geschlossenheit des Rechtssystems verkennt 
das Grundverhältnis von Recht und Staat. An dem Faktum 
der staatlichen Existenz hat alles Recht seine unübersteigliche 
Schranke. Daher kann eine Änderung in den Grundlagen des 
staatlichen Lebens zwar Recht vernichten, dem Recht wohnt 
aber niemals die Macht inne, den Gang des Staatslebens in 
  
1) Einen anderen interessanten Fall konstruiert Esmein, p.592E£, 
Der Präsident verliert den Gebrauch seiner geistigen Kräfte, ohne daß 
die Aussicht auf seine Wiederherstellung während der Präsidentschafts- 
periode geschwunden ist. Das Ministerium übernimmt die Gewalten 
des Präsidenten, verliert aber die Majorität in der Deputiertenkammer 
und weigert sich demgemäß, die Geschäfte weiterzuführen. Wer er- 
nennt solchenfalls das neue Ministerium? Esmein will das Problem 
dadurch lösen, daß die Kammern sofort zur Wahl eines neuen Präsi- 
denten schreiten müssen. Dafür ist aber in der Verfassung, die nur für 
den Fall der „vacance“ der Präsidentschaftswürde Vorsorge trifft, kein 
Anhalt zu finden. Wohl aber wäre hier eine sofortige entsprechende 
Verfassungsänderung möglich. 
2) Vgl. Eichelmann Das kaiserlich russische Thronfolge- und 
Hausgesetz, Archiv für Öff. Recht III S.90ff.;, Engelmann Das Staats- 
recht des Kaisertums Rußland in Marquardsens HB. S. 11. 
3) Peter der Große und Peter III. starben ohne Ernennung eines 
Nachfolgers. Katharina I. wird als „stillschweigend“ von Peter dem 
Großen eingesetzt betrachtet, während Katharina II. nach der Absetzung 
ihres Gemahls ohne den geringsten Schein eines Rechtsgrundes den 
Thron besteigt.
	        
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