Full text: Allgemeine Staatslehre

Elftes Kapitel. Staat und Recht. 359 
kritischen Zeiten zu bestimmen. Um eklatante Verletzungen der 
Staatsordnung zu beschönigen, hat man die Kategorie des Staats- 
notrechtes angewendet, die doch nur ein anderer Ausdruck für 
den Satz ist, daß Macht vor Recht geht!). Die Tatsachen gewalt- 
samer Staatsumwälzungen durch die Herrscher oder die Be- 
herrschten lassen sich aber am Maßstabe einer Rechtsordnung 
überhaupt nicht messen, andernfalls man die Geschichte nach 
Strafrechtsparagraphen beurteilen müßte. Die Möglichkeit solcher 
gänzlich außerhalb des Rechtsgebietes stehender Vorgänge kann 
daher niemals durch Gesetze gänzlich ausgeschlossen werden, 
und selbst bei einer reich entwickelten Rechtsordnung können 
„Verfassungslücken‘‘ vorkommen, die gegebenenfalls durch die 
faktischen Machtverhältnisse ausgefüllt werden?). Die Jurispru- 
denz mag dann später nachhinken und mit Hilfe dialektischer 
Kunststückchen die vollendete Tatsache als rechtmäßig nach- 
weisen, sie vollzieht damit doch nur den Versuch einer Ratio- 
nalisierung von Fakten, ganz wie es das von ihr so heftig be- 
kämpte Naturrecht mit so großem Eifer betrieben hatte. Wie viel 
unnütze Mühe hat man sich gegeben, die budgetlose Wirtschaft 
in Preußen 1862—66 wenigstens bis zu einem gewissen Grade 
als rechtmäßig nachzuweisen! Wie weit derartiger Rechtferti- 
gungseifer gehen kann, dafür bietet die englische Jurisprudenz 
ein klassisches Beispiel. Sie hat die Absetzung und Flucht 
Jakobs Il. nicht nur als Abdankung interpretiert, sondern aus 
diesem Vorgang auch sofort ein Präzedenz für ähnliche Fälle 
geschaffen. Blackstone erklärt nämlich: Wenn ein zukünftiger 
Fürst versuchen sollte, die Verfassung des Reiches durch Bruch 
des ursprünglichen Vertrages zwischen Fürst und Volk umzu- 
stürzen und die Grundgesetze des Reiches zu verletzen, und 
sich aus dem Königreich begeben würde, so dürfen wir diese 
Verbindung von Umständen als eine Abdankung annehmen, und 
der Thron würde in solchem Falle vakant werden’). 
Derartige rechtliche Vakua treten aber nur in Ausnahme- 
fällen ein und besitzen stets die Tendenz nach Ausfüllung, die 
entweder durch Einführung streitschlichtender Instanzen oder, 
  
1) Vgl. die vorzüglichen Ausführungen von G.Anschütz im Ver- 
waltungsarchiv V S. 22f., ferner Triepel in der Festgabe für Laband Il 
1908 S. 3251. 
2) Zustimmend Zitelmann, Lücken im Recht S. 32E£. 
3) 1 p.239.
	        
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