360 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
wo dies der Natur der Sache nach nicht möglich ist, durch
Erhebung des Faktischen zum Normativen stattfindet. Daher
sind Revolutionen und Verfassungsbrüche stets die Ausgangs-
punkte neuer Rechtsbildungen. Aber selbst während der größten
Wirren kann nur ein Teil der staatlichen Rechtsordnung unter-
brochen oder ganz vernichtet werden. Der weitaus größte Teil
der gesetzlichen Institutionen funktioniert auch in solchen Fällen
weiter. Völlige Anarchie ist bei entwickelter Kultur ein Unding.
In Frankreich hat man sogar zum Zwecke der Rechtskontinuität
eine gemeinsame Kategorie für die verschiedenen Arten legitimer
und revolutionärer Machthaber geschaffen. König, Kaiser, Prä-
sident werden unter der Bezeichnung chef de l’Etat zusammen-
gefaßt, so daß jeder auf einem neuen Titel beruhende Macht-
haber sofort in den ganzen gesetzlichen Wirkungskreis seines
Vorgängers, abgesehen natürlich von den neuen verfassungs-
rechtlichen Unterschieden, eintritt.
Vorstehende Ausführungen lehren uns die Grenzen juristi-
scher Erforschung des Staatsrechtes erkennen. Diese reicht so
weit, als sich die Domäne des Richters erstreckt. Alles Recht
ist praktischer Natur und muß sich irgendwie im Leben be-
währen und durchsetzen können.
Unter dem Richter ist aber hier jede streitschlichtende
Instanz zu verstehen, sei es der ordentliche Richter, sei es ein
außerordentlicher Staatsgerichtshof oder ein Schiedsgericht. Auch
wo parlamentarische Kammern in rechtlich nicht weiter kon-
trollierbarer Weise über Rechtsfragen urteilen, wie z. B. bei
Wahlprüfungen oder bei Handhabung der parlamentarischen Dis-
ziplin, ist der Richter vorhanden. Anders dort, wo nicht nach
Rechtsgrundsätzen verfahren werden muß, sondern die Zuständig-
keiten der Staatsorgane ihre Schranken nur an ihrer gegenseitigen
Macht finden. Es bedarf kaum der Bemerkung, daß dies nur
bei den obersten Staatsorganen der Fall sein kann.
Man hat oft den Satz aufgestellt, daß die wahre Verfassung
eines Staates im Gegensatz zur geschriebenen auf dem gegen-
seitigen Machtverhältnis der einzelnen staatlichen Faktoren be-
ruht. Dieser allgemeine Satz ist richtig und unrichtig, je nach
der Auffassung, die man vom Wesen der Macht hat.