Elftes Kapitel. Staat und Recht. 369
Allein von der befriedigenden Antwort auf sie hängt die Mög-
lichkeit allen öffentlichen Rechtes und damit allen Rechtes über-
haupt ab.
Ziehen wir zunächst die Konsequenz der Lehre, die den
Staat durch sein Recht für ungebunden und unbindbar erklärt.
Aus ihr ergibt sich, daß das, was dem Untertan, sei es
der einzelne als Individuum, sei es als Träger einer staatlichen
Organisation, als Recht erscheint, für den Staat selbst kein
Recht ist. Wechselt man die Stellung und blickt von den Höhen
des Staates auf die Tiefen des Rechtes hinab, so sieht man —
nichts. Alles Recht ist für den Staat Nicht-Recht, ein juristisches
Nichts, das ihm selbst fremd ist und fremd bleibt, das er aber
seinen Untertanen aufzwingt und damit für diese zum Recht erhebt.
Solche Auffassung kann folgerichtig nur auf dem Boden
einer starr theokratischen Rechtsordnung durchgeführt werden.
Nur ein Gott oder ein gottähnlich verehrter Monarch vermag
seinen unerforschlichen, stets veränderlichen Willensschluß zur
schlechthin von jedem, nur nicht von ihm selbst anzuerken-
nenden Norm des Handelns zu erheben.
Ganz anders aber verhält es sich da, wo der Staat nach
festen, nur in rechtlichen Formen entstehenden und abänder-
lichen Rechtsregeln verfährt. Solche Regel enthält einmal die
Bindung der Staatsorgane an sie. Damit allein ist aber die Tätig-
keit des Staates selbst gebunden, indem staatliche Organtätigkeit
Staatstätigkeit selbst ist, ja andere Staatstätigkeit als die durch
Organe vermittelte überhaupt nicht existiert. Solche Regel ent-
hält aber auch die Zusicherung an die Untertanen, daß die Staats-
organe verpflichtet sind, ihr gemäß zu verfahren. Das Strafrecht
ist nicht nur Anweisung für den Richter, das Finanzrecht nicht
bloß Instruktion für den Steuerkommissar, sondern enthält zu-
gleich auch die Zusicherung an die Untertanen, daß nur diesen
Gesetzen gemäß verfahren werde. Alle Normen begründen die
Erwartung, daß sie, solange nicht ein rechtmäßiger Aufhebungs-
grund vorliegt, unverbrüchlich werden gehandhabt werden. In
diesem Vertrauen auf die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung
wurzelt nicht .zum geringen Teil die für jeden einzelnen not-
Gebundenheit, keineswegs aber deren letzte reale Ursache darstellt, habe
ich daselbst S.14ff. ausführlich dargelegt. Die der Jurisprudenz ge-
steckten Grenzen sind: durchaus nicht mit denen der. Wissenschaft über-
haupt identisch!
G. Jellinek, Allg. Staatslehre. 3. Aufl. 24