Elftes Kapitel. Staat und Recht. 379
den Einzelstaat hinausgeht. An diesem Punkte zeigt sich die
Verbindung von Gesellschaftslehre und Völkerrecht. Da, wie oben
näher ausgeführt, die gesellschaftlichen Interessen vielfach weit
über den Einzelstaat hinausreichen und die Staaten selbst als
soziale Bildungen Gesellschaftsgruppen bilden, so wirkt die Ge-
samtheit dieser internationalen Gesellschaftsverhältnisse den
wesentlichen Inhalt des internationalen Rechtes aus. Die 'natio-
nalen oder einzelstaatlichen Gegenströmungen gegen die ıinter-
nationale Gesellschaft sind aber so stark, daß sie nur ein Neben-
einanderbestehen der Staaten, keine Organisation der Staaten-
gemeinschaft hervorgerufen haben, von Gelegenheitsorganisationen
und engeren Staatenverbindungen innerhalb der umfassenden Ge-
meinschaft abgesehen. Die Staatengemeinschaft ist daher rein
anarchıscher Natur, und das Völkerrecht, weil einer nicht-
organisierten und daher keine Herrschermacht besitzenden
Autorität entspringend, kann füglich als ein anarchisches
Recht bezeichnet werden, was zugleich seine Unvollkommenheiten
und Mängel erklärt.
Der klare Blick in die Zukunft ist uns verwehrt. Über-
blicken wir aber die gewaltigen Fortschritte, die dieses anarchische
Recht in der neuesten Zeit gemacht hat, dann scheint die Ent-
wicklung dennoch dem für uns allerdings in unendlicher Ferne
liegenden, ın der Realität der Dinge vielleicht niemals ganz
zu erreichenden Ziele zuzustreben, auf das Kant hingedeutet
hat: „Das größte Problem für die Menschengattung, zu deren
Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer all-
gemeinen, das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft‘).
1) Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.
WW., herausgegeben von Rosenkranz, VII S. 323.