Full text: Allgemeine Staatslehre

4536 Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslehre. 
schichtliche Prozeß ist bis jetzt noch nirgends eingehend geschildert 
worden. Im folgenden soll er in großen Zügen gezeichnet werden. 
1. Das auszeichnende Merkmal des Staates, das ıhn von 
allen anderen Arten menschlicher Gemeinschaft unterscheidet, 
bildet nach Aristoteles die Autarkiet). Dieser antike 
Begriff aber hat mit dem modernen der Souveränetät nicht die 
geringste Verwandtschaft. Selbstgenügsamkeit bezeichnet für die 
antike Staatslehre jene Eigenschaft des Staates, vermöge deren 
das menschliche Ergänzungsstreben in ihm zur vollsten Be- 
friedigung gelangt. Der Staat muß daher so geartet sein, daß 
er einer anderen ihn ergänzenden Gemeinschaft seiner Natur 
nach nicht bedarf; keineswegs widerspricht es aber seinem Wesen, 
wenn er tatsächlich sich in einer oder der anderen Beziehung 
von einem anderen Gemeinwesen abhängig findet. Nur muß ihm 
die Möglichkeit innewohnen, unabhängig von diesem übergeordneten 
Staate existieren zu können, der also keine notwendige Bedingung 
seines Daseins bilden darf?). Nur für den idealen Staat fordert 
Aristoteles nicht nur potentielle, sondern auch aktuelle Un- 
abhängigkeit nach außen, die aber nicht etwa in seinem Wesen 
als höchster Gewalt, sondern in dem ihm innewohnenden Zustand 
der Selbstbefriedigung aller seiner Bedürfnisse begründet ist?°). 
Aus dem Begriffe der Autarkie ergeben sich daher gar keine 
Folgerungen über die gegenseitigen Verhältnisse der empirischen 
Staaten, über den Umfang der Herrschaftsbefugnisse, die ihnen 
nach innen zustehen. Die Autarkie ist keine rechtliche, sondern 
1) nolıs, — naons Eyovoa neoas ts avrapxeias. Pol. I 1252b, 28ff. 
2) un yao &r ı@v ddvrarwr 7 ol Akıov elvan xalelv ınv ice Ödov- 
Any’ avtanuxns yao ) aolıs, To Öe Öovlov obx auraoxes. Pol. IV 1291a, Yff. 
Gerade die Stellung Griechenlands seit der Schlacht von Chäronea hätte 
Aristoteles zu einer ganz anderen Anschauung über das Wesen der Polis 
bringen müssen, wenn er rechtliche und faktische Unabhängigkeit als 
wesentliches Merkmal des Staates angesehen hätte. Mit dem Satze 
aber, daß die Polis von Natur aus nicht zur Abhängigkeit bestimmt ist, 
konnten sıch faktische Abhängigkeitsverhältnisse wohl vertragen. 
3) Vgl. Pol. V11 1326b. Die Bevölkerung des besten Staates soll 
so groß sein, als die Autarkie es erfordert, und das Land soll alle 
nöligen Erzeugnisse selbst hervorbringen: „zo yao aavra Uraoyev xal 
deiodar ymdevos adraozes“, also sittliche nnd ökonomische, nicht recht- 
liche Unabhängigkeit besitzen. \gl. auch Rehm, Geschichte der 
Staatsrechtslehre S. 91ff., der überzeugend nachgewiesen hat, daß dem 
Aristotelischen Staatsbegriffe Abhängigkeitsverhältnisse durchaus nicht 
widersprechen. 
 
	        
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