Full text: Allgemeine Staatslehre

Vierzehntes Kapitel. Die Eigenschaften der Staatsgewalt. 443 
Dieser offiziellen Lehre widersprachen aber, namentlich seit 
dem Fall der Hohenstaufen, die klar vor den Augen aller liegenden 
tatsächlichen Verhältnisse. Frankreich und England kümmerten 
sich nicht im geringsten um die kaiserliche Oberhoheit oder 
leugneten sie!) direkt. Venedig behauptete, stets außerhalb des 
Reiches gestanden zu haben; auch die anderen italienischen 
Stadtrepubliken, wie vor allem Florenz und Pisa, werden für 
civitates superiorem non recognoscentes erklärt. Die Theorie 
muß notgedrungen auf diese Ansprüche Rücksicht nehmen, sie 
tut es aber in der Weise, daß sie das Recht der principes und 
civitates auf Unabhängigkeit auf einen vom Kaiser anzuerkennenden 
Rechtstitel stützt, der ın der Rechtsordnung des Reiches selbst 
begründet ist. In echt mittelalterlich-privatrechtlicher Weise 
wird daher diese Unabhängigkeit zurückgeführt auf kaiserliches 
Privileg, Verjährung, unvordenklichen Besitzstand?). Aber nie- 
mals wird die behauptete Unabhängigkeit aus dem Wesen des 
Staates selbst abgeleitet, denn damit hätte die mittelalterliche 
Staatslehre das ganze Fundament zerstört, auf dem sie aufgebaut 
war. Deshalb bleiben auch die aus irgendeinem Titel von der 
Oberhoheit des Kaisers befreiten Könige dennoch im Verbande des 
Reiches: Das spricht z. B. Bartolus in voller Schärfe aus: 
Rex Franciae et Angliae licet negent se subditos Regı Romanorum, 
PP OREEEFRFREE 
1) Namentlich das französische Königtum betonte stets seine Un- 
abhängigkeit vom Imperium. Vgl. Glasson Histoire du droit et des 
institutions de la France V 1893 p.326ff.; Viollet Histoire des 
institutions politiques et administratives de la France 1895 II p.40ff. 
Auch A.Leroux, La royaut@ francaise et le saint empire romain, 
Revue historique, t.49 1892 p.241ff.,, der die Anerkennung des Im- 
periums von seiten der ersten Capetinger zu erweisen sucht und p. 260f. 
die rechtliche Stellung der Capetinger zum Reich vor dem Interregnum 
mit der eines exempten Bischofs vergleicht, erklärt p.286 das dem 
Kaiser von seiten Frankreichs zugestandene Primat als ein politisch 
bedeutungsloses. Für England vgl. die Nachweise bei Hatschek 
Engl. Staatsrecht I S. 75. 
®) Vgl. z.B. Ubertus de Lampugnano: Utrum omnes_ christiani 
subsunt Romano Imperio, Zeitschr. f. gesch. Rechtswissenschaft Il p. 253: 
„» dieamus, quod aliqui sint exempti ab Imperio romano privilegio 
praescriptione vel quocungue modo alio“. Als Beispiele werden angeführt 
rex Franciae, Veneti, ecclesia Romana. Ferner Aeneas Sylvius c.XI: 
Cuncti profecto, qui sub iugo negant imperii, aut id privilegio se asserunt 
assecutos, aut virtute aliqua. Über diese virtutes sodann c.X11l. Eine 
detaillierte Aufzählung aller hierher gehörigen Rechtstitel der Fürsten
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.