Erstes Kapitel. Die Aufgabe der Staatslehre. li
kann formell unverändert bleiben und dennoch vermöge der
Wirkung politischer Mächte einen ganz anderen Inhalt gewinnen.
Das zeigt sich in vollster Deutlichkeit bei einem Rechte von
langer geschichtlicher Kontinuität. So hat der Satz, daß das
englische Parlament des Königs Rat ist, seine rechtliche Be-
deutung im Laufe der Jahrhunderte fortwährend geändert, so ist
das Verbot der Kabinettsregierung in England trotz der gegen-
teiligen Praxis bis auf den heutigen Tag nicht aufgehoben worden
und äußert in der Tat noch einige untergeordnete Wirkungen.
Mit der formalen Logik allein kommt man daher leicht zur Zeich-
nung staatsrechtlicher Bilder, denen in der Wirklichkeit der
Dinge gar nichts entspricht. In Wahrheit spielt aber die formale
Logik bei der Feststellung der staatsrechtlichen Grundbegriffe
lange nicht die ihr von der konstruktiven Methode zugedachte
Rolle. Auch wenn man absieht von den staatsrechtlichen Autoren,
die in aufdringlicher Weise mit ihrer politischen Gesinnung
prunken, so ergibt oft schon eine oberflächliche Betrachtung der
Stellung, welche Vertreter der rein juristischen Methode im
Staatsrecht zu den grundlegenden Problemen einnehmen, ganz
deutlich ein Bild fester politischer Anschauungen, die sie ihren
Untersuchungen zugrunde gelegt haben.
Ein wichtiger Grundsatz, der aus solcher Erkenntnis folgt,
lautet dahin, daß das politisch Unmögliche nicht
Gegenstand ernsthafter jurıstischer Untersuchung
sein kann. Müßig wäre z. B. eine Untersuchung der Frage,
was Rechtens sei, wenn der deutsche Kaiser den Reichskanzler
entläßt, ohne einen neuen zu ernennen, oder wenn der Bundesrat
sich weigern sollte, Vorschläge für erledigte Richterstellen am
Reichsgericht zu erstatten. Für müßig halte ich auch die Er-
örterungen über den Verzicht eines deutschen Bundesstaates auf
ein ihm zustehendes Sonderrecht trotz eines dagegen gerichteten
landesgesetzlichen Verbotes!). Müßig ist die Frage nach der
Zulässigkeit der Realunion eines deutschen Gliedstaates mit einem
außerdeutschen Staat oder auch der Möglichkeit eines Krieges
zwischen den Gliedern einer Personalunion?). Alles Recht soll
gelten, d. h. die Möglichkeit besitzen, in den Erscheinungen ver-
wirklicht zu werden. Was nicht Wirklichkeit gewinnen kann,
soll niemals Gegenstand der Rechtsforschung sein.
1) Vgl. Laband a.a.0O. I S. 125.
*) Vgl. unten Kap. XXI.
(1. Jellinek, Allg. Staatslehre. 3. Aufl. 2