Full text: Allgemeine Staatslehre

Vierzehntes Kapitel. Die Eigenschaften der Staatsgewalt. 485 
oft ganz anderen Ursprung nachweist und sie mit nichten alle 
als von Hause aus nur dem Staate zugehörig erkannt hat. 
Aus dem Souveränetätsbegriff, der rein formaler Natur ist, 
folgt: an sich gar nichts für den Inhalt der Staatsgewalt. Die 
Zuständigkeit des Staates ist eine geschichtlich wechselnde. Aller 
positive Inhalt der Staatsgewalt kann nur durch historische 
Forschung für eine bestimmte Epoche und einen bestimmten 
Staat festgelegt werden, wenn auch ın jedem Zeitraum die Zu- 
ständigkeit der auf gleicher Kulturstufe stehenden Staaten, an- 
nähernd wenigstens, denselben Typus aufzuweisen pflegt. Gewisse 
Gebiete wird der Staat zwar stets besetzt halten, aber auch auf 
dem Felde der konstanten Zuständigkeiten wechseln dennoch 
Art und Umfang der staatlichen Kompetenz. Namentlich im 
19. Jahrhundert ist die Ausdehnung der staatlichen Zuständigkeit 
ın großartigstem Maße erfolgt. Alle Gerichte sind für Staats- 
gerichte erklärt, die Reste feudaler Polizeigewalt beseitigt, das 
ganze Unterrichtswesen staatlicher Leitung und Öberaufsicht 
unterstellt, kirchliche Verwaltungstätigkeit auf dem Gebiete des 
Personenstandwesens vom Staate übernommen worden, in der 
Arbeiterfürsorge, dem Impf-, Viehseuchen-, Strandungs-, Patent-, 
Eisenbahnwesen usw. dem Staate neue Verwaltungsgebiete zu- 
gewachsen. Nichtsdestoweniger hat die Souveränetät des Staates 
dadurch keine Änderung erfahren: sie ist mit nichten gewachsen. 
Und anderseits sınd durch Anerkennung individueller Freiheit 
frühere ‚„Hoheitsrechte‘‘ verschwunden, ohne daß die Souveränetät 
davon irgend berührt worden wäre. 
Es kann daher aus der Tatsache, daß ein Staat nach be- 
stimmten Richtungen sich nicht betätigt, daß er gewisse Zu- 
ständigkeiten oder „Hoheitsrechte‘ nicht besitzt, gar kein Schluß 
auf das Wesen seiner Staatsgewalt gemacht werden. Wie weit 
eine Staatsgewalt sich zu betätigen habe, um souverän zu sein, 
ist eine gar nicht zu beantwortende Frage. 
Wenn daher zwei miteinander verbundene Staaten staat- 
liche Kompetenzen, die heute der Einheitsstaat zu besitzen pflegt, 
derart verteilt aufweisen, daß jeder von ihnen sich nur eine 
bestimmte Quote dieser Kompetenzen zuschreibt, so ist damit 
in keiner Weise eine Teilung der Souveränetät oder auch nur 
der Staatsgewalt gesetzt. Vielmehr sind hier zwei getrennte 
Staatsgewalten vorhanden, deren Kompetenz rechtlich beschränkt 
ist, ohne daß sie beide zusammen die ganze Staatsgewalt aus-
	        
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