Full text: Allgemeine Staatslehre

Erstes Kapitel. Die Aufgabe der Staatslehre. 21 
als einen tatsächlichen Faktor des Volkslebens, sind ausschließlich 
dem Seienden im Rechte zugewandt. Namentlich die Geschichte 
wird das Recht nur nach dem Maße seines realen Seins, der 
tatsächlichen Wirkungen messen können, die es hervorgebracht 
hat, da alles Sollen seiner Natur nach sich nur in der Zukunft 
entfalten kann. 
Politische Normen hingegen gelten nur kraft freier An- 
erkennung; sie haben keine andere Macht, sich durchzusetzen, 
als die in jedem hierzu berufenen Individuum selbständig auf- 
tretende Überzeugung von ihrer inneren Notwendigkeit; sie 
können niemand aufgedrungen werden. Rechtsnormen sind, 
Grenzfälle ausgenommen, stets unzweifelhaft; politische sind in 
der Regel Gegenstand des Zweifels, denn allgemein gültige poli- 
tische Regeln können schon deshalb nicht aufgestellt werden, 
weil alle konkreten politischen Zwecke entweder relativ oder 
metaphysisch, in beiden Fällen aber Gegenstand individuellen 
oder parteimäßigen Meinens und Glaubens sind. 
5. Begrenzung der Aufgabe einer allgemeinen Staatslehre. 
Der Staat ist zwar eine allgemein menschliche Erscheinung, 
allein keineswegs läßt sich ein einheitlicher, gemeinsamer Ur- 
sprung aller Staaten behaupten. Die Anfänge grundlegender 
menschlicher Institutionen sind uns in Dunkel gehüllt. Zwar hat 
sich ethnologische und prähistorische Forschung in neuester Zeit 
energisch der Lösung des Rätsels der menschlichen Urgeschichte 
zugewendet. Doch sind die sicheren, jedem Zweifel entrückten 
Resultate trotz einer reichen, auf umfassendem Material fußenden 
Literatur sehr dürftig. So steht vor allem in dem am meisten 
durchforschten Gebiete, in der Lehre von der Entstehung der 
Familienverbältnisse, Ansicht gegen Ansicht, ohne daß irgend- 
eine als die durchschlagende bezeichnet werden könnte. Kon- 
struktionen aller Sorten vertreten die Stelle von Beweisen, daher 
jeder, der die Entwicklung menschlicher Gemeinverhältnisse zum 
besseren Verständnis der historischen Erscheinungen oder gar, 
um den zukünftigen Gang der Geschichte zu bestimmen, ab ovo 
kennen lernen zu müssen glaubt, in der Lage ist, für aprioristische 
Theorien aller Art sowie auch für soziale und politische For- 
derungen der verschiedensten Färbung aus der Menge des Stoffes 
das ıhm Passende auszusuchen.
	        
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