Fünizehntes Kapitel.
Die Staatsverfassung’?).
Jeder dauernde Verband bedarf einer Ordnung, der gemäß
sein Wille gebildet und vollzogen, sein Bereich abgegrenzt, die
Stellung seiner Mitglieder in ihm und zu ihm geregelt wird.
Eine derartige Ordnung heißt eine Verfassung.
Notwendig hat daher jeder Staat eine Verfassung. Ein ver-
fassungsloser Staat wäre Anarchie. Selbst den „Willkürstaaten‘
im antiken Sinne ist sie zu eigen, der sog. Despotie nicht minder
wie dem Regiment eines demokratischen Wohlfahrtsausschusses
nach der Art des französischen von 1793. Es genügt das Dasein
einer faktischen, die Staatseinheit erhaltenden Macht, um dem
Minimum von Verfassung zu genügen, dessen der Staat zu seiner
Existenz bedarf. Die Regel aber bildet bei Kulturvölkern eine
rechtlich anerkannte, aus Rechtssätzen bestehende Ordnung.
Die Verfassung des Staates umfaßt demnach in der Regel
die Rechtssätze, welche die obersten Organe des Staates be-
zeichnen, die Art ihrer Schöpfung, ihr gegenseitiges Verhältnis
und ihren Wirkungskreis festsetzen, ferner die grundsätzliche
Stellung des einzelnen zur Staatsgewalt.
I. Überblick über die Geschichte der Verfassungen.
l. Im angegebenen Sinne ist der Begriff der Verfassung
bereits von den Griechen festgestellt worden. Aristoteles
1) Zur Geschichte der Verfassungen vgl. Borgeaud Etablissement
et revision des constitutions en Amerique et en Europe 1893; derselbe
in dem oben S.206 N,1 zitierten Aufsatze (englisch unter dem Titel:
„Ihe Rise of Modern Democracy in Old and New England‘ erschienen);
Esmein Droit const. p.503ff.; Foster Commentaries on the Con-
stitution of the United States I 1896 p. 27ff.; G. Jellinek Erkl. der
Menschen- und Bürgerrechte; derselbe Das Recht der Minoritäten
1898 S. 7ff.; Lemaire Les lois fondamentales de la monarchie francaise
1907; Eg. Zweig Die Lehre vom pouvoir constituant 1909 S.1ff. (mit
reichen Nachweisen).