Fünfzehntes Kapitel. Die Staatsverfassung. 807
erkannt wurde. Auf dem Erkennen und Verkennen römischer
Verhältnisse beruht ferner die Idee einer unbeschränkten kon-
stituierenden Gewalt, die ausschließlich der souveränen Bürger-
schaft zusteht und von ihr nach freiem Ermessen geübt wird. Diese
Idee wird durch das Naturrecht, namentlich durch Pufen-
dorf!), Locke?) und Wolff), verbreitet und findet zuerst in
den Vereinigten Staaten ıhre praktische Anwendung und sodann
im revolutionären Frankreich nebstdem ihren theoretischen Aus-
druck in der Lehre vom pouvoir constituant, in welchem alle
Staatsgewalten ihren Ausgangs- und Eingangspunkt haben. Die
Wirkung dieser Lehre läßt sich bis in die Gegenwart verfolgen.
So sehr aber auch den Alten die Vorstellung der Verfassung
geläufig war, so wenig erheben sie die Forderung, die gesamte
Verfassung in einem Instrument niederzulegen, dem höhere Gel-
tung zukommen solle als den übrigen Gesetzen. Nebst anderen
Gesetzen haben zwar auch einzelne Verfassungsgesetze ihre Auf-
zeichnung erhalten, nirgends jedoch wird eine förmliche Urkunde
über dıe Grundlagen der staatlichen Organisation errichtet.
Die Beurkundung des Rechtes eines Gemeinwesens wird erst
da notwendig, wo dieses Recht von einer außenstehenden Macht
verliehen oder bestätigt wird. Daher finden wir bereits in Rom
die von dem herrschenden Staate den untergeordneten Gemein-
wesen verliehene Autonomie in leges datae umschrieben. Im
Mittelalter wird Städten, Körperschaften, Kirchen, Grundherren
ihr Recht verbrieft, weil es ein Zugeständnis einer über ihnen
stehenden Autorität ist. Sich selbst Rechte zu verbriefen, hat
keinen Sinn; solches setzt vielmehr stets einen Verleiher und
einen Empfänger voraus. Die oft zitierten Beispiele mittelalter-
licher Verfassungsgesetze sind, näher besehen, nicht viel anderes
als Rechtsgeschäfte zwischen zwei gegeneinander selbständigen
Personen; sie haben auch der Form nach den Charakter von
Verträgen und nicht den von Gesetzen; der oben geschilderte
Dualismus des mittelalterlichen Staates kommt in ihnen juristisch
am reinsten zum Ausdrucke. Daher auch ihre schriftliche Auf-
1) De jure nat. et gent. VII2 88. Zuerst wird das pactum unionis
von den Staatsgründern abgeschlossen. Erst das so gebildete Volk
erläßt das Dekret über die forma regiminis.
2) a.2.0.118, 95ff.
3) Jus naturae VIII $815: Potestati legislatoriae non suhsunt leges
fundamentales.