Full text: Allgemeine Staatslehre

Fünfzehntes Kapitel. Die Staatsverfassung. 533 
Ferner sind ın der einen genauc Bestimmungen über die Wahl- 
rechte zu den Kammern und die parlamentarischen Geschäfts- 
formen zu finden, die in anderen in einfache Gesetze verwiesen 
sind. Dort sind die Rechtssätze über Erwerb und Verlust der 
Staatsangehörigkeit oder die staatsrechtliche Stellung der Ge- 
meinden genau erörtert, hier sind sie mit gänzlichem Still- 
schweigen übergangen; bald sind eingehende Bestimmungen über 
das Finanzwesen, die Organisation der Staatsbehörden, den Um- 
fang der individuellen Freiheitsrechte vorhanden, bald nur wenige 
allgemeine Sätze über diese Gegenstände. Wichtige und un- 
wichtige Bestimmungen stehen häufen nebeneinander!), während 
man anderseits tiefeingreifende Regeln über die staatliche Organi- 
sation oft in einfachen Gesetzen zu suchen hat. Große Staaten 
haben oft sehr kurze, kleine sehr umfangreiche Verfassungs- 
urkunden. 
Diese Unmöglichkeit, durch andere als äußerliche Merkmale 
Verfassungs- und einfache Gesetzgebung voneinander zu sondern, 
hat in neuerer Zeit in dem Ursprungslande der geschriebenen 
Verfassungen zu eigentümlichen Konsequenzen geführt. Aus 
Mißtrauen gegen die Legislaturen und die in ihnen herrschenden 
Majoritäten ist in den Gliedstaaten der Union eine große Zahl 
von Gegenständen der einfachen Gesetzgebung entzogen und der 
Verfassungsgesetzgebung zugewiesen worden, darunter solche, die 
in Europa überhaupt nicht durch Gesetz, sondern dureh Ver- 
ordnung geregelt werden würden?). Infolgedessen sind die Ver- 
fassungen mancher Staaten zu kleinen Gesetzbüchern heran- 
gewachsen. Die Entlastung der einfachen Gesetzgebung hat sogar 
dahin geführt, daß in den meisten Staaten die jährliche Sitzungs- 
  
die Thronfolge und die Regentschaft, die heutigen konstitutionellen 
Gesetze hingegen erwähnen nicht der Grundrechte. 
1) Man denke nur an die Bestimmungen der Reichsverfassung über 
die Kontrolle des Eisenbahntarifwesens (Art. 45), an das Schächtverbot 
der Schweizerischen Bundesverfassung, an den Satz der preußischen 
Verfassung (Art. 25), daß der Staat den Volksschullehrern ein festes 
Einkommen gewährleistet usw. Vgl. auch Laband Archiv f. öff. Recht 
IX S.274. — Wie wichtig es übrigens im Einzelfall werden kann, die 
materiellen Verfassungsbestimmungen von den formellen zu sclıeiden, 
lehrt der Hochverratsprozeß gegen Liebknecht: Urt. d. Reichsgerichts 
v.12. 10.1907, Sächs. Archiv f. Rechtspflege III 1908 S. 366 ff. 
2) Vgl. Bryce Amer. Commonw. TI p.494£.; Oberholtzer p. 44ff. 
und new ed. p. 86 ff.
	        
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