Full text: Allgemeine Staatslehre

Sechzehntes Kapitel. Die Staatsorgane. 541 
die Handlungen ihrer Mitglieder unmittelbar haftbar gemacht. 
Streng individualisierende Beurteilung menschlichen Tuns ist stets 
nur die Sache Weniger gewesen. 
Diesen historisch-psychologischen Tatbestand muß man sich 
vor Augen halten, um einzusehen, daß man sich mit der Vor- 
stellung von Verbandsorganen in keiner Weise bereits auf das 
Gebiet juristischer Fiktionen, ja überhaupt nicht der Jurisprudenz 
begeben hat. Die Vorstellung einer Gruppentätigkeit des einzelnen, 
die ja der von der Verbandstätigkeit zugrunde liegt, geht viel- 
mehr aller Jurisprudenz voran. Die kollektivistische Seite der 
menschlichen Handlungen wird überall früher erkannt als die in- 
dividualistische. Je niedriger die Kulturzustände einer Epoche 
sind, je mehr die Gruppe von außen bedroht, je mehr gemein- 
same Tat notwendig ist, um den einzelnen zu schützen und zu 
erhalten, desto mehr fühlt sich das Individuum selbst unmittelbar 
nur als Gruppenmitglied und beansprucht daher für sich auch 
nur gliedschaftliche Rechte. Es ist allemal das Ergebnis der 
tiefstgreifenden Revolution, wenn das Individuum sich der Gruppe 
bewußt als gleichberechtigte und von ihr anzuerkennende Macht 
gegenüberstellt. Die Synthese also, welche wir heute ın der Eı- 
kenntnis des Daseins von Verbandseinheiten vollziehen, ruht nicht 
nur in der wissenschaftlichen Überlegung, sondern. auch auf der 
ursprünglichen Ausgestaltung des menschlichen Bewußtseins, so- 
weit wir es wenigstens geschichtlich nach rückwärts verfolgen 
können. 
Fortschreitende .Entwicklung der rechtlichen und politischen 
Vorstellungen .lehrt aber notwendigerweise zwischen individueller 
und Verbandstätigkeit scheiden. Der einzelne als solcher wird 
immer .mehr mit individuellem Rechte ausgestattet und damit 
individueller Verantwortlichkeit unterworfen!). Neben dieser sich 
also bildenden individuellen Tätigkeitssphäre bleibt aber bei 
organısierten Gruppen stets noch ein Handlungsgebiet des Ver- 
bandes selbst bestehen; es gelingt niemals, ein ausschließlich 
individuelles Handeln in der Tätigkeit der Mitglieder zu gestatten, 
  
1) Interessant ist es namentlich, die Sonderung der strafrechtlichen 
Individual- von der Kollektivverantwortlichkeit zu verfolgen. So die 
Teilung des Wergeldes bei einigen germanischen Stämmen in Erbsühne 
und Magsühne, die erstere von dem Täter aufzubringen und der Famise 
des Getöteten zufallend, die letztere von der Sippe an die Magen des 
Verstorbenen zu zahlen Vgl. Schröder Rechtsgeschichte S. 82.
	        
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