Full text: Allgemeine Staatslehre

552 Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslehre. 
worden?!), — ein neuer Beweis dafür, mit welch elementarer 
Macht scheinbar überwundene Anschauungen kraft der geschicht- 
lichen Tradition fortleben. Es sind nicht alle frei, die ihrer 
naturrechtlichen Ketten spotten. 
Die näheren Ausführungen über diese wichtige Materie, 
soweit sie nicht schon in dem Kapitel über die Souveränetät 
erörtert worden sind, gehören in die Lehre von den Staats- 
formen. 
3. Im Zusammenhange mit dieser abgewiesenen, eine bestimmte 
politische Lehre mit dem Mantel von Rechtssätzen bekleidenden 
Theorie steht Uie, welche das Dasein eines Trägers der Staats- 
gewalt in jedem Staate als über dessen Organen stehend be- 
hauptet. Träger der Staatsgewalt ist der Staat und niemand 
anders?). Behauptet man, daß im Staat noch ein, Träger dieser 
  
I) Vgl. System der subjektiven Öffentlichen Rechte S.148 N.6. 
In der neuesten Literatur wird die irrige Vorstellung vertreten von 
Triepel, Das Interregnum 1892 S.64f.,70; Zorn 1 S.88£., der aus- 
führt, daß Inhaber der Souveränetät die ideale Persönlichkeit des 
Staates sei. Von dieser müsse dıe Souveränetät zur Ausübung an eine 
natürliche Person „übertragen“ werden. Wie eine solche Übertragung 
überhaupt vor sich gehen kann, ist aber unverständlich. Wollte Zorn 
konsequent sein, so müßte er sich allerdings frank und frei zur Seydel- 
Bornhakschen Herrscheriheorie bekennen, da die ‚ideale Persönlichkeit 
des Staates“ in seiner Staatsauffassung nirgends zu Worte kommt. 
2) Mit voller Klarheit hat für das Reich diese Ansicht vertreten 
Laband, 1 S.95f., der aber trotzdem S. 97 von den deutschen Fürsten 
und Senaten der freien Städte als ‚Trägern oder Inhabern der Souveränetät“ 
spricht. Mit Einschränkungen und nicht als begrifflich notwendig fordert 
Rehm, Staatslehre S.176ff., einen Träger der Staatsgewalt, den er in 
den physischen Personen findet, welche die ganze oder den größten Teil 
der dem Staate zukommenden Gewalt äußerlich, bildlich, körperlich dar- 
stellen. Kann man aber wirklich die Staatsgewalt sehen? Ist die 
Körperlichkeit der Gewalt nicht vielmehr Resultat einer sehr ver- 
wickelten psychologischen Täuschung? Namentlich in der großen Re- 
publik ist es doch klar, daß das organisierte Volk als Träger der 
Gewalt gar nicht zur sinnlichen Erscheinung kommen kann. Mit der 
Staatsgewalt geht es wie mit allen Rechtsbegriffen: sie können nie 
geschaut werden. Niemand hat noch einen Kauf oder eine Miete ge- 
sehen — so viele Personen auch solche Rechtsgeschäfte vornehmen. 
Ein solcher Begriff des Trägers der Staatsgewalt ist aber überdies für 
das Staatsrecht der meisten Staaten im höchsten Grade verwirrend. 
Unschädlich ist er bloß für die absolute Monarchie. Für alle anderen 
Staaten gilt jedoch der treffende Satz Haenels, Staatsrecht I 3.93, 
daß die Lehre von der rechtlichen Konzentrierung aller Rechte der
	        
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