Full text: Allgemeine Staatslehre

Siebzehntes Kapitel. Repräsentation und repräsentative Organe. 567 
realen Vorgängen gänzlich übersieht. Rousseau, der fort 
während mit juristischen Abstraktionen und Fiktionen ar- 
beitet, hat, um seine bekannte Theorie von der Unmöglichkeit 
der Repräsentation des Volkes zu begründen, gerade in diesem 
Punkte den juristischen Standpunkt mit dem psychologischen 
vertauscht). 
Anderseits aber gibt es vielleicht keinen Punkt im gesamten 
Umfange der Staatslehre, wo juristische Vorstellungen so tief 
aus den allgemeinen Überzeugungen emporgewachsen sind, ohne 
daß weite Schichten der Gesellschaft es sich zum Bewußtsein 
bringen. Das hat denn allerdings jene Verwechslung von recht- 
lichen und faktischen Vorgängen mit veranlaßt, welche die Be- 
urteilung des repräsentativen Systems so gründlich verwirrt. 
Ausgangspunkt ist nämlich auch hier jenes naive Denken, 
das Handlungen einzelner Mitglieder einer Gruppe dieser selbst 
und damit allen in ihr zusammengefaßten Individuen zuschreibt. 
Die Tötung, die ein Stammesmitglied begeht, wird auf den 
Stamm selbst bezogen und damit allen Stammesmitgliedern zu- 
gerechnet, von denen jedes von der Blutrache ergriffen werden 
kann, die’ sich gegen den einzelnen in seiner Eigenschaft als 
Repräsentanten aller seiner Genossen kehrt. Nicht nur die Vor- 
stellung des Organverhältnisses, sondern auch die der Repräsen- 
tatıon gehört sicherlich zu dem Inventar ursprünglicher mensch- 
licher Rechtsanschauungen. 
Die juristische Konstruktion hat diesen Tatbestand lange 
verkannt oder doch nicht richtig erkannt. Solange der Rechts- 
begriff des Organes nicht gefunden war, suchte man mit privat- 
rechtlichen. Analogien, mit den Begriffen der Stellvertretung und 
des Auftrags sich die einschlägigen Verhältnisse klarzumachen. 
Die richtige Einsicht hat zwar niemals völlig gemangelt, Klarheit 
ist in vollem Umfang aber erst in neuester Zeit errungen worden. 
Lehrreich ist es, die Vorgeschichte der modernen Vorstellungen 
zu betrachten, was im folgenden in großen Zügen geschehen soll?). 
2. Zu den am häufigsten gehörten Behauptungen über das 
Recht der antiken Staaten zählt die, welche ihnen den Gedanken 
  
1) La volonteE ne se repr&sente point: elle est la mäme, ou elle 
est aufre: il n’y a point de milieu. Contr. soc. III 15. 
2) Zum folgenden vgl. auch Ausg. Schriften und Reden II 1911 
S. 371 £f.
	        
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