Zweites Kapitel. Die Methodik der Staatslehre. 29
beweisbarer Voraussetzungen und ungenügender Kenntnis der
Tatsachen. Deshalb kommen wir auch niemals dahin, ein künftiges
geschichtliches Ereignis mit einiger Sicherheit zu bestimmen,
während selbst verhältnismäßig verwickelte physikalische Vor-
gänge mit Hilfe naturwissenschaftlicher Erkenntnis im voraus
berechnet werden können.
Der Grund hiervon liegt darin, daß soziale Vorgänge niemals
bloß als Wirkungen allgemeiner Kräfte, sondern vor allem auch
als Leistungen bestimmter Individuen erscheinen. Menschliche
Individuen unterscheiden sich aber grundsätzlich von natürlichen
Kräften dadurch, daß sie gegenüber der Gleichartigkeit dieser
eine unendliche Mannigfaltigkeit aufweisen. Alle natürlichen
Kräfte sind meßbar, indem wir sie auf Krafteinheiten zurück-
führen. Die kleinsten materiellen Teile sowohl in der einfachen
Form des Atoms als in der komplizierten des Moleküls sind
durchaus homogen: ein Atom Kohlenstoff, ein Molekül Kohlen-
säure sind ihren spezifischen Eigenschaften nach mit den anderen
ihrer Gattung durchaus identisch. Menschliche Individuen hin-
gegen sind ins Unendliche verschieden; ın jedem von ihnen ist
ein einziggeartetes, unwıiederholbares Element zu finden, das ihre
sozialen Leistungen bestimmt. Jedes einzelne Naturobjekt hat
zwar auch eine individuelle Gestalt, die es von allen anderen
gleicher Art unterscheidet. Je komplizierter die Naturobjekte
sind, desto mehr kommen die individualisierenden Elemente in
ihnen zum Ausdruck. Bei höheren Pflanzen und Tieren treten
sie jedermann sofort mit sichtbarer Schärfe entgegen. Aber
dieses Individuelle ist nicht oder doch nur in untergeordnetem
Maße Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung. In mensch-
lichen Dingen überwiegen aber die individualisierenden Elemente
derart, daß eine sie ignorierende Wissenschaft nur dürftige, das
reale Leben nicht erfassende Resultate zu bieten vermag!?).
Läßt sich nun die Grundlage aller sozialen Erscheinungen,
das Individuum, niemals völlig berechnen, so ist damit auch die
Unmöglichkeit umfassender Erkenntnis sozialer Gesetze dargetan.
Jede geschichtliche Tatsache, jede soziale Erscheinung bietet bei
2) Die Möglichkeit der Erkenntnis allgemeiner Urteile über historisch-
soziale Erscheinungen und gemeingültiger Gesetze ihres Geschehens soll
daher mit Rücksicht auf die identischen Elemente in ihnen nicht ge-
leugnet, wohl aber angezweifelt werden, daß aus ihnen wegen ihrer
Inhaltsleere erheblicher wissenschaftlicher Nutzen gezogen werden kann.