Full text: Allgemeine Staatslehre

8178 Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslcehre. 
Einführung des imperativen Mandates, das die Abgeordneten von 
neuem an die Aufträge der Wähler knüpft und sie aus unmittel- 
baren zu mittelbaren Organen wandelt. Andere hingegen postu- 
lieren die Sanktion der Parlaments- durch Volksschlüsset), also 
Einführung des fakultativen oder obligatorischen Referendums 
in größerem oder geringerem Umfange in der Art, wie es in 
der Schweiz und der Nordamerikanischen Union verwirklicht ist. 
Von anderer Seite wiederum ist die Lehre aufgestellt worden, 
daß in Wahrheit nicht, wie die offizielle staatsrechtliche Lehre 
behauptet, das einheitliche Volk es sei, das im Parlamente zum 
Worte komme, sondern Abgeordnete der einzelnen Gesellschafts- 
gruppen, nicht die Vertreter eines einheitlichen Willens, sondern 
partikulärer Interessen; in Wahrheit sei es eine soziale, nicht 
eine politische Institution. Nicht das Staats-, sondern das Partei- 
interesse sei der Leitstern der unausbleiblich die Grundlage alles 
Parlamentarismus bildenden politischen Parteien ?). 
  
1) Diese Form der Gesetzgebung hatte schon Rousseau trotz 
seiner Verwerfung des Repräsentationsgedankens für zulässig erklärt: 
Les deputes du peuple ne sont donc nı ne peuvent Eire ses representants, 
ils ne sont que ses commissaires; ils ne peuvent rien conclure d£finitive- 
ment. Toute loi que le peuple en personne n’a pas ratifice est nulle; 
ce n’est point une loi. Contr. soc. III 15. 
2) Diese Auffassung wurde begründet durch Lorenz Stein, der in 
seinem Werke über die Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich 
die moderne Geschichte als einen Kampf der Gesellschaft um den Staat 
begreifen will. Hierauf hat Gneist in zahlreichen Schriften das 
Parlament als gesellschaftliche Bildung erfaßt, die sich in England 
harmonisch in den Bau des Staates einfügt, in Frankreich aber den Staat 
beherrscht. Auch andere Juristen haben diesen Gedanken zu verwerten 
gesucht. So O.Mejer, Einleitung S. 19, dem Nordamerika und Frank- 
reich sozial konstruierte Staaten sind, der die gewählte Volksvertretung 
der Sache nach als soziale Interessenvertretung bezeichnet und in ihr 
eine Vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft findet. Endlich hat 
Rıeker, Die rechtliche Natur der modernen Volksvertretung 1893, 
diesen Gedanken auf die Spitze getrieben, das Parlament überhaupt 
nicht als Staatsorgan, sondern als „Ausdruck der verschiedenen in der 
Gesellschaft wirkenden Kräfte“ erklärt und behauptet, daß es das 
Volk nicht in seiner politischen Einheit, sondern in seiner sozialen 
Unterschiedenheit, ja Zerrissenheit repräsentiert (S.59). Gegen Rieker, 
aber grundsätzlich mit ihm übereinstimmend, Kelsen, Hauptprobleme 
S.469ff. Auch nach Kelsen ist das Parlament kein Staatsorgan, da der 
Rechtssatz fehle, auf Grund dessen der Parlamentswille zum Staats- 
willen erhoben werde. Aber im geordneten Staate gibt es einen solchen 
Rechtssatz gewiß: das Verfassungsgesetz, und erst das revolutionäre Volk,
	        
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