Siebzehntes Kapitel. Repräsentation und repräsentative Organe. 579
Diese Auffassung übersieht, daß die Gescllschaft keinen ein-
heitlichen Willen hat oder haben kann, ein Parlament hingegen
in seinen Beschlüssen notwendigerweise einen solchen haben
muß. Gewiß sind, wenn auch nicht rechtlich, so doch faktisch
stets verschiedene, einander entgegengesetzte soziale Gruppen im
Parlamente vertreten, allein alle diese Gruppen haben jeder ge-
gebenen Frage gegenüber nur die zweierlei Möglichkeiten der
Entscheidung: sie können nur mit Ja oder mit Nein stimmen.
Nicht die spezifische Stellung einer Partei zu einer bestimmten
Frage kann, den in kontinentalen Staaten seltenen Fall aus-
genommen, in welchem diese Partei eine in sich einheitliche
Majorität bildet, in der Entscheidung zum Ausdruck gelangen.
Vielmehr wird auf Grund von Kompromissen, Anpassungen an
augenblickliche Verhältnisse u. dgl. aus den häufig weit von-
einander abweichenden Anschauungen verschiedener Gruppen ein
möglicherweise auf den mannigfaltigsten Motiven beruhender ge-
meinsamer, einheitlicher Beschluß hergestellt. Dieser Beschluß
ist aber nicht Gesellschaftswille, d. h. nicht addierter Wille der
Gesellschaftsgruppen, der in der Regel gar keine Möglichkeit
cines Beschlusses ergeben würde, sondern einheitlicher Volks-
wille. Den legislatorischen Beschluß des Reichstages etwa hın-
sichtlich des Gesetzes über Erwerbung und Verlust der Bundes-
und Staatsangehörigkeit oder das Postgesetz als Äußerung des
Gesellschaftswillens zu bezeichnen, ist ganz unzulässig, weil für
abweichende Ansichten der einzelnen Gesellschaftsgruppen ın
diesem einheitlichen Gesetze kein Raum ist. Der Kampf Jer
sozialen Interessen ist also stets in die Vorbereitungsstadien
des Entschlusses verlegt; in der Entscheidung selbst stehen sich
immer nur die eine Majorität und die eine Minorität gegenüber.
Wenn aber die Zusammensetzung eines Parlamentes auf
Grund des Wahlsystems und anderer konkreter Umstände derart
ist, daß in ihm das Übergewicht einer mit einer bestimmten
sozialen Gruppe zusammenfallenden Partei stattfindet, wenn die
Beschlüsse von den Interessen einer rücksichtslosen Klassen-
herrschaft diktiert sind, so ist selbst solchenfalls die Bezeich-
nung des also gebildeten Willens als Gesellschaftswillens juristisch
nicht zulässig; vielmehr würde alle Möglichkeit rechtlicher Be-
—_— ,—, nun
das gegen Gesetz und Recht die Verfassung stürzt, verdient nicht mehr
den Namen eines Staatsorgans.
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